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Post by Il Narratore on Dec 5, 2014 10:18:16 GMT
Warum war er gerade hier gelandet, im blutigen Höllenloch von Genua? Was machte diese Stadt eigentlich aus? Waren es die Heerscharen an klassenlosem Abschaum, an Ausgestoßenen, die in der Gosse herumlungern mussten, in der Asche ihrer Vorfahren und der Pisse ihrer erhabenen Mitbürger? Vielmehr musste es doch der Stolz der Stadt sein, ihre Arroganz und Dreistigkeit, sich trotz der tausenden Elenden noch Stadt zu nennen, den alten Namen von Civitas und Kultur in den Dreck zu ziehen. Beides aber - die Abfälle in den Straßen und die Überheblichkeit - fand sich auch in anderen Städten. Was war denn Rom schon in dieser Zeit? Die ewige, die marmorne Stadt war eine Ruine voller Asketen, ein Steinbruch von kaum einem hundertsten Teil seiner einstigen Größe, die Hure von Barbaren und Bettlern. Das ach so ruhmreiche Karthago ein gesalzenes Aschefeld voller Mohammedaner, ständig lüstern nach neuen Kriegen und Schiffen, das edle Athen verlassen von allen Geistern und Philosophen, Jerusalem besetzt von Orientalen und zerrissen von Götzenkriegen. Jeder letzte Rest von Anstand war aus der Welt verschwunden. Die Leute schissen auf der Straße oder im eigenen Wohnzimmer, schlachteten Vieh wo sie schliefen und fickten wo sie aßen. Lucius musste sich wundern, wie es so schnell soweit hatte kommen können. Wie eine geordnete Bürgerschaft hatte abrutschen können in Chaos, in Anarchie und Tyrannei des Schwertes.
Am Haarschopf zog er den blonden Lockenkopf aus dem Wirtshaus, warf ihn ohne große Mühe in die hell erleuchtete Gasse am Hafen. Mit dem Gesicht voran landete Danilo im Schlamm, der zäh viskos zu den Seiten wegspritzte und gegen vorbeieilendes Bürgervieh pladderte. Einer der Händler, der für einen Augenblick seine Erleichterung an der Ecke gesucht hatte, sprang entsetzt auf, verschnürte eilig die Beinkleider. "Lasst wissen, Leute", brüllte Lucius und trieb den Mann mit Tritten und Hieben durch die Gassen, hin zum Platz, "dass hier ein Dieb ist, der ganze Karren der Bauern stahl. Ein Dieb von Essen, ein Maulheld, ein Mörder eurer Sache." Ohne Mühe wurde Danilo auf den Platz geworfen, wo sich rasch eine Traube Schaulustiger fand. "Es war euer Essen, das er gestohlen, nur um es euch gegen Wucher zu verkaufen!" Das war nicht die ganze Wahrheit, aber...was interessierten die hungernden Massen von Piazzalunga sich für die Bettelkinder und Waisen von Clavicula?
Die Menge auf dem Mercato di San Giorgio röhrte und buhte Danilo aus, der sich vergeblich aufzurappeln versuchte. Wo immer er hinkroch schlossen sich die Reihen vor ihm , wann immer er sich erhob stieß in jemand in den Schlamm zurück. Die ungenießbaren Abfälle der Fleischer landeten auf ihm - Innereien, Augen, Hoden, Blasen -, die Umstehenden bespuckten ihn. Schließlich gab er nach. Der Gestank des fauligen Bodens, die Hitze der ligurischen Sommerküste, der Stress seines rasenden Herzens. Auf allen vieren erbrach er sich. Süßlich und brennend mischte sich sein Mageninhalt gelblich zu den braunroten Flecken auf seinem Hemd, seiner Hose.
Lucius sah die Abart, die Erniedrung und er ekelte sich. Das Volk sah den Ekel des Onnivoro und hielt ihn für Er sprang nach vorne, packte seine Klinge fest in beiden Händen. Hackte auf Danilo ein, wild, ungestüm. Keine glatten Schnitte, sauber abgetrennte Gliedmaßen. Ohnehin unmöglich ohne ihn festzubinden. Jeder Schrei, jedes herausgerissene Stück Fleisch, jeder Spritzer fachte ihn nur weiter an. Blut tat das mit ihm seit einiger Zeit, trieb den roten Zorn heraus. Machte ihn wütend auf diese Abscheulichkeit, auf die Frechheit dieses Gesindels, ihre Jugend, ihre Unbekümmertheit mit der sie sich im Dung wälzten. Er zerhackte den Dieb Danilo vor der johlenden Menge. Blut im Gesicht und auf dem Wanst, in der einen Hand die nasse Klinge, in der anderen den Lockenkopf schrie er: "So ergeht's allem Abschaum!" Und der Pöbel jubilierte über sein eigenes Todesurteil. Während Lucius zu seinen Männern in die Spelunke zurück marschierte, um sich den Rest der Bande vorzunehmen, glaubte er die Antwort auf seine Jahrzehnte alte Frage zu haben. Das Wesen der Genuesi war eine gewisse Entrückung, eine Distanz zu allem Mondänen und Ekelhaftem, von dem sie glaubten niemals betroffen zu sein.
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Post by Il Narratore on Jan 8, 2015 16:48:06 GMT
Eingeweide, einmal aus dem lebenden Körper entfernt, stanken abscheulich. In den zuckenden Schläuchen, Röhren, Blasen und fleischigen Lappen sammelte sich der Unrat des menschlichen Körpers, seine Galle, Pisse, Eiter, Sekrete und vielerlei mehr, floß durch diesen Teil seines Körpers fort von den reinen Organen Herz und Hirn, um sich in den Absonderungsorganen zu sammeln. Das heißt, floß normalerweise dort hindurch, wenn besagte Innereien sich nicht im Schlamm vor dem Körper wälzten und ihren Inhalt auf die Erde spuckten. Leider war gerade dies momentan der Fall für ihn und kein verzweifeltes Werk seiner Hände konnte irgendetwas an dem zwei Fuß klaffendem Schnitt unterhalb seines Bauchnabels ändern. Langsam nur wurde diese Tatsache auch Teil seiner Realität, so langsam wie sich sein Gedärm von seinem angestammten Platz löste und mit leisem, schleimigen Klatschen seinen Oberschenkel herunter kroch. "Danilo grüßt dich aus der Gosse, Schwein", flüsterte der Lange und – aus Bosheit oder um sicher zu gehen – rammte sein Messer abermals in den bloßen, fischigen Bauch von Luccio Il Onnivoro.
Irgendwo in einer Gasse am Hafen lag er, seines Waffenschmucks, seiner Wertsachen, seiner Ehre, eines Großteils seines Lebens beraubt, und blutete mit einiger Geschwindigkeit aus. Hatte irgendwann passieren müssen, zwangsläufig. Er hatte Feinde, seine Herren hatten Feinde, der Straßenkampf war sein Leben – irgendwann passierten Fehler. Tödliche Fehler. Hatte nur kurz pissen wollen, Massimo und Mario beim Karren gelassen. Mehr hatten die beiden Kerle nicht gebraucht, die ihm jetzt beim sterben zusahen.
Er war geschlagen, ganz sicher. Blutig und elend, garantiert. So gut wie erledigt, wahrscheinlich. Aber tot? Tot noch nicht ganz und auch nur so gut wie erledigt. Und in der Welt des Allesfresser war "so gut" genauso viel wert wie nichts. Alles, das in der Welt des Allesfressers nach so langer Zeit noch einen Wert besaß, war die dunkelste, die süßeste Sünde, die sich denken ließ: Blut. Ein wenig war noch in ihm. Nicht alles sein eigenes.
Ein Ziehen, tief in ihm drin. Als würde ein Fleischerhaken mit Gewalt an seinem Innersten rucken. Wie der Dolch dieses langen Kerls, nur in die andere Richtung. Weniger Blut floß aus ihm heraus in den Schmutz, doch die Lache um ihn herum musste groß genug sein. Ein letztes Schaudern, ein letztes Zucken des milchigweißen Fleisches, dann lag Luccio ganz still. Schmerz durchflutete noch immer seinen Leib, schrie aus seinen Adern, Venen und aus ganzem Herzen seinen Hass heraus. Der Kurze beugte sich herunter zu ihm, um den Atem zu kontrollieren, das Messer gezückt und an während der Lange ihn mit dem Fuß in die Seite trat, ihn so herumrollte. Das Kurzen Kehle öffnete sich in einem roten Bach. Der lange Kerl sprang zurück, die Augen weit aufgerissen. Ein schwacher Tritt, seine Knie brachen. Einem aus dem Winterschlaf erwachendem Bären gleich rollte der Allesfresser herum, Gewicht und unheiliges Blut hinter gekrümmte Knie legend. Der Schädel platzte wie ein rohes Ei.
Luccio wusste aber auch, dass es nicht genug in ihm gab, um zu überleben. Die Wunde blutete nicht mehr, die Fähigkeiten seiner Herrin hielten das zerhackte Fleisch zusammen. Aber innerhalb der nächsten Minuten würde er in einen Schlaf sinken, aus dem er nie wieder erwachen würde. Es gab nur eines, das sein unnatürlich langes Leben endgültig retten konnte: Mehr Blut. Nicht das dünne Blut dieser Bastarde hier, aber das seiner Herrin. Das wenige, was von ihr noch in seinem Körper verblieben war, hatte sich fast bis zur Gänze aufgelöst, als er seine letzte Kraft für seine Rache aufgebracht hatte. Er hatte gezählt, jeden einzelnen Tag gezählt seiner elenden und glückseligen Existenz und wusste, wieviel Zeit das Schicksal sich von ihm wiederholen würde. Bei jedem Gott und seiner Mutter – es war kein Ende, das er sich wünschte. In Windeseile zu verrotten, zu Schleim und Staub zu zerfallen.
Er musste kriechen, nervenaufreibend langsam zog sich der geschundene Leib vorwärts, die breiten Zähne aufeinander und mit einem Arm seine Gedärme in den Leib zurück pressend. Seine Stiefel rutschten ab vom besudelten Erdreich, das ihm keinen Halt bot, seine Finger griffen mehrmals kraftlos zu, ehe er nach Augenblicken des Herumtastens festen Boden unter all dem Wasser, Blut und Pisse fand. Lucius der Allesfresser würde nicht in der Gosse sterben. Nicht in dieser.
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Post by Il Narratore on Apr 5, 2015 21:37:42 GMT
Die Sonne brannte heiß auf Köpfe hinab. Der ungepflasterte Platz in Domus platzte auf unter der mittäglichen Hitze und dem Sand der heißen Winde aus Afrika jenseits des Meeres. Es war der neunzehnte August im Jahre des Herrn 943 in einer der neuen Nachbarschaften in Domus. Eines der von den Fieschi und einem fremden Händler in Gemeinschaft errichteten Viertel voller Armenhäuser. Mit Spenden war auch der Platz gemacht worden, in dessen Mitte eine Statue stand. Groß und geflügelt breitete der unbekannte Engel die Arme aus, als wollte er die ganze Stadt einschließen in seiner liebevollen Umarmung. Demütig senkte sich sein Blick nach unten und ein wissendes, verschmitzes Lächeln zierte die feinen, adligen Gesichtszüge. Auf dem Sockel dieser Statue stand der Bischof und redete. Um ihn her standen einige seiner engsten Freunde: Seine Diener, seine Berater und Messdiener, der Priester der Laurentuskapelle, der den Bau des Viertels organisiert hatte, und eine neue Garde, die einen Kreis um die Statue und die kleine Gruppe Kleriker gebildet hatte und zwischen dem Heiligen und den Gläubigen stand.
Bischof Romperto hielt eine bewegende Rede vor hunderten Bürgern der Stadt. Domus war vollgestopft von ihnen. Kinder saßen auf Schultern, hockten auf Dächern und hingen an Wäscheleinen, Männer schoben und drängelten sich soweit das Auge reichte in die Gassen und den Platz. Aus allen Ecken des Elends waren die Menschen gekommen, denn heute erklärte Romperto sein Urteil über jenen unseligen Tag, da der Teufel aus seinem Griff entschwunden war. Der heilige Mann verurteilte den Abt Bartolomeo di San Sisto e Vittorio, der sich hatte korrumpieren lassen, und er verurteilte die Intrige und den Mordkomplott, derer er diesen schuldig sprach. Er verurteilte die Leichtgläubigkeit des Paters Domenico, der eine Fälschung von heiligen Relikten zugelassen hatte, um den Glauben der Menschen zu retten. Er verdammte Maximinianus di Firenze in die Hölle, diesen Teufel und Dämon, der brave, gläubige Männer irregeführt, der gemordet und geschlachtet hatte unter den Schäfchen Gottes und ihm selbst nach dem Leben getrachtet.
Romperto verstand das Volk von Genua, die Armen, deren Brüder und Schwestern gemordet, deren Glauben an eine bessere, gerechtere Welt von falschen Priestern wie von Juden verschachert werde, deren Gräber entweiht und geschändet und geplündert würden von fetten und reichen Männern aus fremden Städten. Doch Gewalt sei keine Lösung, auch nicht gegen die Fehlgeleiteten. Besonders nicht gegen die von den Fehlgeleiteten Belogenen. Denn seien nicht auch sie selbst belogen worden? Gier nach Rache sei eine Gier und eine Sünde. Und so bettelte er um ihr Vertrauen, um ihre Zuversicht. Die Mörder und Grabschänder seien aus der Kirche verbannt, ihr Urteil unterschrieben und bald vollstreckt - der tapfere Pater Ludovico hätte dies mit seinem Opfer ermöglicht.
Da zupfte einer seiner Diener, Tino, Romperto am Gewand. Er beachtete es nicht, er sprach weiter. Er sprach von den Menschen, von ihrem Glauben und dass er stark genug sei, alle Schlechtigkeit zu ertragen und zu ändern. Dass es nicht Gewalt sei, die Dinge verändern würde, sondern die Gewaltlosigkeit. Wieder zupfte es und der Bischof blickte verärgert hinab. Es sei der stumme und leidende Aufschrei gegen Ungerechtigkeit, fuhr er fort, gegen Missbrauch und Hass, der die Welt verändern würde. Tino riss ihn am Knöchel herunter. Romperto fiel, mit einem überraschten Schrei zu Boden. Er war über ihm. Etwas blitzte in der Sonne. Heiß verdampfte Blut auf dem kochenden Stein.
Es dauerte nur Bruchteile eines Herzschlages, da waren Bewaffnete bei ihm. Stießen ihn weg. Schreie wurden laut. Ein Arzt! Ein Medicus, ein Quacksalber, ein Pfuscher! Ein Mann der vordersten Reihe drängte sich durch. Man kannte ihn in Domus, er behandelte seit Wochen. Eine Gasse bildete sich, man schubste ihn weiter. Eilig hatten Gardisten des Bischofs sein Hemd aufgerissen, hatten Verbände vorbereitet und die Menge auf Abstand gehalten. Massimo ging in die Knie. Er blinzelte, als er die flache aber regelmäßige Atmung hörte. Seine Hände zitterten, als er den Herzschlag des Mannes fühlte. Er brach in Schweiß aus, als er die Wunden in den Seiten, auf den Armen sah. Nicht tödlich. Mit klammen Händen griff er zu dem schmutzigen, verkrusteten Messer. Er betrachtete es und entdeckte einen ranzigen, widerlichen Geruch, Reste von Mist und Gift und Abfall und... Rammte es dem Alten mit hässlichem Knacken durch die Augen. Wieder. Und wieder.
Schock. Entsetzen, Wut, Zorn, Hass brandete auf in den Menschen auf dem Platz. Die Wachen des Bischofs schlugen ein auf den angeblichen Arzt, Fäuste und Nieten und Nägel trafen ihn ihm Gesicht, starke Hände rissen ihn von dem heiligen Mann. Den Frieden zu wahren wurde unmöglich. Das Volk drängte vorwärts, brandete wie eine Sturmflut gegen die Bewaffneten. Schreie wurden laut, zornige Rufe. Wellen gleich krachte die Stimmung der Menschen in die Mittagssonne. Sie überspülten die Bewaffneten und rissen den Wahnsinnigen mit sich, der in seinem Irrsinn den sterbenden Bischof geschändet hatte. Das größte Stück, das man von ihm wieder gefunden hatte in den nächsten Tagen, war nicht größer als sein Daumennagel oder die gelbe Pupille seines linken Auges. Die Garde floh. Sie nahmen das Fleisch, das einst Romperto II. Bischof von Genua gewesen war, auf ihre Schultern, sie nahmen den Verräter und Mörder in ihre Mitte und Sie flohen. Hinaus aus den Toren der Stadt, lauthals lamentierten sie und verkündeten die Klage auf dem Weg zur Kathedrale des heiligen Syrus: Der Bischof war tot.
Die Statue, unter deren Augen dies geschah, trug fortan ihren Namen in den Gedanken der Stadt: Der weinende Engel. Es mochte Zufall sein, dass die Züge des Engels so nobel, so gleichgültig und stoisch in den Stein gehauen waren. Dass sie den Parasiten der Domäne so wohlbekannt vorkamen. Es mochte Zufall sein.
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Post by Il Narratore on Jun 12, 2015 22:17:01 GMT
Die Dame aus dem Gewölbe - 940 Ihr Mann hatte es streng verboten. Strengstens sogar und angedroht, Hand an sie zulegen, während er doch sonst kein Freund der körperlichen Züchtigung war. Aber sie musste einfach dieses letzte Meisterwerk sehen, in dem Konrad – wie er über Jahre ganz stolz erzählt hatte – eine uralte Form neuentdeckt hatte. Im Schlaf wäre sie ihm erschienen, als er eines Nachts auf der Baustelle eingeschlafen sei: Ein Kreuzgewölbe, bestehend aus zwei ineinander verhakten Tonnengewölben. So ließen sich auch die gigantischen Lasten des Schlösschens tragen und ein solider Keller errichten. Der Baumeister war aber aus unerfindlichen Gründen eisern geblieben und hatte ihr die Besichtigung verweigert, wo er sie doch sonst immer durch seine Bauwerke führte. So hatte sie sich davon stehlen müssen, als er zum Grafen geladen worden war und sie bei dessen Frau abgeladen hatte. Das alte Biest schlief regelmäßig im Gespräch ein und ihre Mägde loszuwerden gestaltete sich einfach. Die Wachen, die sich mehr im Thronsaal und um dem Eingang zur Gruft zu scharren schienen, waren schwerer zu überlisten gewesen. Aber auch die gaben sich manchmal weiblichen Reizen hin und einem sanft gehauchten Versprechen. Ihr Mann hatte streng verboten, sich hier herunter zu wagen. Und mittlerweile verstand Auria, warum. Es war kein angenehmer Ort. Die Feuchte kroch in die Knochen und die Kleider, das Echo ihrer eigenen Schritte warf sich vielfältig und endlos von den Wänden wieder, vermengte sich mit dem Gestöhn und Geheul der tieferen Ebenen, wo die übelsten Verbrecher des Landes gehalten wurden. Unglücklicherweise...hatte sie sich völlig verlaufen. Es war ein echtes Labyrinth hier unten. Kaum zu glauben, dass der Graf Nutzen für soviele Lagerräume und Kerker und Gänge und Keller und hatte. Sie hatte schon aufgeben wollen, sich einfach in eine Ecke setzen und weinen mögen, bis man sie fand und zurecht wies und schlug und bestrafte, so wie es einem dummen, neugierigen Mädchen wie ihr zukam. Da war er erschienen. Dieses Monster von einem Mann, das sie ab und an beobachtet hatte. Sie konnte seine fetten, ekelhaften Augen auf ihr spüren, wann immer sie auf Festen gewesen war oder wenn ihr Mann Richtfest feierte. Als die Kaserne eingeweiht, das Castelletto bezogen oder die Embriaci geladen hatten, war er da gewesen. Luccio Il Onnivoro, dessen Appetit in jeder Hinsicht unersättlich war. Sie hatte Gerüchte gehört bei Hofe von den...den Dingen, die verlangte und der Anzahl an Frauen, die er verschlungen hatte. Sein Körper, wenn man die Ansammlung von Speck und bleicher Haut so nennen wollte, zeugte von vielem anderen, angeblich noch erschreckenderem Appetit. "Sie sollten nicht hier sein", hatte er gesagt. Ein schiefes Lächeln schnitt sich in sein feistes Gesicht. Die Frau wirkte klein, so zerbrechlich unter seiner Pranke, die sich auf ihre Schulter legte. "Keine Angst. Ich bin ja jetzt da."-------- "Hm", machte das blauäugige Mädchen und tippte mit dem linken Zeigefinger ungeduldig auf dem Rand seines silbernen Bechers herum. "Lucius, du wirst die Wachen durchpeitschen müssen. Kaum...kaum was? Ein halbes Jahr sind wir hier und schon haben wir einen Besucher. Das ist weder der richtige Zeitpunkt, noch der richtige Ort, meinst du nicht? Ich bin überhaupt nicht angemessen gekleidet."Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass an dem Mädchen irgendetwas unangemessen sein könnte. Sie war so schlank und zartgliedrig, so weiß wie die Gipfel der Berge und so fern. Ihr Gewand floß wie Milch an ihr herunter, ihr Gesicht war makellos und diese Lippen...Sie hätte getötet für diese Lippen. "Sag mir Kind, wie heißt du?"'Auria, Herrin. Auria della Volta, obwohl mein Herr Gemahl mich Oria nennt', sagte sie mechanisch. Das blauäugige Mädchen lächelte, während es sich vorbeugte und eine kühle, harte Hand auf die Wange der Frau legte. "Ich kann das funktionieren sehen...du wirst meinen Lucius sehr glücklich machen. Er möchte sich zur Ruhe setzen, musst du wissen."Ihre himmelblauen Augen waren so schön. So tief und rein und klar, dass niemand wegsehen mochte, dass man sie nur betrachten wollte für den Rest der Nacht. "Jedenfalls für ein, zwei Leben. Und es kommt tatsächlich sehr selten vor, dass er mich um etwas bittet."Sie hätte sich wundern mögen, dass der junge Henker sich zur Ruhe setzen mochte und dass das kaum halb so alte Mädchen sie 'Kind' nannte - doch Rechnerei fiel ihr in diesem Moment schwer. Und wenn man einmal darüber nachdachte...Der Allesfresser war seit bestimmt fünfzehn Jahren im Dienst. Wie alt er wohl sein mochte? 40? 50? So alt sah er gar nicht aus. Auria blickte auf einen Wink zu dem schwammigen Mann, dessen Schweinsäuglein sie stumpf anglotzten, dem selbst bei dieser Kälte der Schweiß ran und der schnaufte, obwohl er nicht viel mehr als einige Treppen und Windungen und Abkürzungen mit ihr hier hinunter genommen hatte. Sie lächelte ihn an. "Er möchte Kinder, kannst du das glauben? Natürlich wollte er das. Ein so stattlicher Bulle wie er, der platzte sicher. Die Angeberei der anderen Frauen verriet es ihr schon lange: So ein Kerl, der wollte irgendwann eine Familie. Ein Wunder eigentlich, dass er noch keine hatte. 'Es wäre mir eine Ehre, sie ihm zu schenken, meine Dame', plapperte Auria, ehe sie errötete. Sie wusste nicht, ob sie das hatte sagen wollen. Aber es stimmte. In ihrem tiefsten Inneren hatte sie in diesem Moment ihren Mann vergessen. Bald würde auch er vergessen.
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Post by Il Narratore on Jul 30, 2015 21:50:50 GMT
Caliban - 960
Wie kann er es wagen!, fauchte die Kreatur. Ein Tisch flog, das massive Kiefernholz zerschellte an der Steinmauer. Splitter regneten auf einen dabei kauernden Wachmann herunter, der das Gesicht in den Händen vergraben doch nicht wagte den Blick nur einen Augenblick von dem tobenden Ungeheuer zu wenden. Zwischen schwieligen Fingern blinzelte er hindurch und beobachtete, wie Schimpf, Schande und Geschirr durch den Versammlungsraum flogen. Es gab im allgemeinen zwei Arten von Zorn. Eine stumme, Leib und Seele aushöhlende, Verachtung, die sich in Gift und Galle äußerte, und die reine, ungezügelte Ira. Jene Todsünde, die Gott und Sohn das Leben gekostet hatte, die tief im Herzen jedes Vampires steckte und - neben der Avarizia, der Gier - die einzige Regung ihres kalten Blutes war. Zugegebenermaßen war es schwer, dieses spezielle Blut wirklich kalt zu nennen...doch es ergab sich zweifelsfrei völlig jener zweiten Art des Zorns, die wie sinnlos wütete. Er atmete nicht schwerer, atmete tatsächlich gar nicht, als sein Blick wieder zu seinen Gästen kam, obwohl er seit einigen Minuten bereits tobte, fluchte und Dinge umher warf. Die braunen Augen sprangen unruhig umher, suchten Zerstörbares, suchten irgendein gemachtes Ding, an dem sich ursprünglichste, primitivste Wut auslassen konnte. Der Vampir hatte gut Lust, jemanden zu schlagen, auf Fleisch einzuprügeln, bis es platzte. Bis Knochen brachen und Blut spritzte. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sich nicht an den Gästen seines Heimes zu vergehen und auch nicht an seinen eigenen Männern. Das Mobiliar war weniger glücklich. Er tigerte unruhig umher, blieb nie stehen, bewegte und schritt und sprang durch den Saal, während er ihre Geschichte wiederholte. Wie ein Mantra, sinnlos, nur für sich selbst. ¨Amtsanmaßung. Amtsmissbrauch. Widerspruch gegen die Prinzessin. Irreführung von Gästen. Beanspruchung von Domäne.¨ Wie irr ging sein Blick umher, traf endlich einen bis eben verschonten Sessel. Die Wache an der Tür zum Hof konnte gerade rechtzeitig beiseite springen, um nicht von einem entzwei gefetzten Balken aufgespießt zu werden. Das Kantholz zerbarst an der Mauer. PEPE, röhrte er, dass das Haus erzitterte. Geduckt eilte der Hauptmann der Wache und Konsul von Platealonga ins Zimmer, verneigte sich wieder und wieder vor den Gästen und seinem Herren. Er war sichtlich angegriffen von dem mittlerweile fünfzehnminütigen Anfall, hatte einen hochroten Kopf und zuckte bei jeder weit ausholenden, fuchtelnden Bewegung seines Freundes zusammen. ¨Versammel die Jungs¨, befahl dieser barsch. ¨Schick Giulio nach Incrociato, ich brauche Ferrucios Sittenwächter. Je mehr, desto besser. Lieber noch alle, soll der Cazzo selber nachzählen, ob seine Lüge von den 300 stimmt¨ Antigonos wandte sich an Fabrizio di Venezia. ¨Seid ihr bereit, auch vor der Prinzessin diese Worte Maximinianus' zu wiederholen?¨ Der Liktor grinste eine schiefe Grimasse. Perlweiße Zähne zeigten sich. Sie WIRD uns anhören müssen, wenn sie hört, was ihr Neffe mit den Armen im Hafen angestellt hat.¨
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Post by Il Narratore on Sept 23, 2015 19:55:14 GMT
Tage des Hundes - 961
Der zerlumpte Mann, ein Knabe fast noch mit seinem stoppeligen Bartschatten und den schlanken Gliedern, schlurfte durch die Straßen. Sein Haar klebte schlammverkrustet an seinem Schädel, seiner Stirn und den Schläfen. Er ignorierte es. Ignorierte seinen erbarmungswürdigen Zustand, wie auch die Fliegen in seinem Haar und die Läuse, Zecken und Maden, die sich irgendwo auf ihm angesammelt hatten und in der Sommerhitze gediehen. Vor einigen Jahren noch hätte er sich davor geekelt, sicherlich, aber damals hatte er noch auf der Straße gelebt. Das heißt auf der Straße zwischen den Städten, wo es Tau und Bäche und Flüsse und Auen und Seen gab, man sich waschen und unter freiem Sternenhimmel liegen konnte. Hier nicht. Hier wanderte er im Schlamm zwischen toten Bäumen, hier regnete es Pisse, machten die Leute auf die Straße und unter freiem Himmel liegen hieß, auf die Dächer und Balken der Häuser zu blicken. Hier gab es keinen Anstand, keine Sauberkeit. Jeder Mann und jede Frau hier hatte Dreck am Stecken, die meisten versteckten ihn nur.
Er war verstoßen, nein, zurückgelassen worden von seinem Herrn in diesem Pissloch. Man hatte ihn erst verlassen, ohne ein Wort des Abschiedes oder der lieben Worte an ihn zu richten. Schuldlos war er in den Sündenpfuhl geschleudert worden und gelangte nun nicht mehr aus eigener Kraft hinaus. Hier hatte man ihm Gewalt angetan, hatte ihn unterworfen und missbraucht, ihn zu unaussprechlichen Dingen getrieben. Vergewaltigung, Missbrauch. Mord. Blut klebte an seiner Seele - warum es also vom Leib waschen? Sein Körper war nicht elender als sein Geist. Sollte die Welt es wissen. Natürlich schrie er es nicht hinaus, tat das allermindeste, um nicht aufzufallen. Doch die 'braven Bürger', die ach so 'besorgten Bürger' hätten ihn nur einmal anblicken müssen, nur für einen Augenblick in den offenbaren Abgrund und Riss in ihrer Mitte sehen müssen, um die Wahrheit zu erkennen. Keiner tat es.
Niccolo trottete weiter durch die Nacht, auf der Suche nach der Nahrung eines Anderen, nach ein wenig Wärme, die er stehlen konnte. Nur Anima war an seiner Seite, der übellaunige Köter, den er vor einem Jahr aufgelesen hatte. Ein kleiner Welpe damals, der hatte ertränkt werden sollen im Hafenbecken - er hatte ihn zumindest retten können. Mittlerweile war er gigantisch. Ging ihm bis zur Hüfte, fast zweihundert Pfund schwer. Er wusste nicht, warum das Tier so groß wurde und nicht mit wachsen aufhören wollte - vielmehr als Ratten und Katzen konnte er ihm nicht anbieten. Er lächelte. Der Hund spürte es und lächelte zurück. Seltsam, wie er das konnte. Vielleicht, dachte er manchmal, war dieses Tier der einzige Teil von ihm, der noch intakt war.
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Post by Il Narratore on Sept 30, 2015 8:35:02 GMT
Frühjahr 962
Augen blickten von den bewaldeten Hügeln auf die Stadt herab. Auf jenen Moloch von Pestilenz und Gestank und Lärm und Geheul und Blut und Gestöhn, der wie ein eitrig roter Fleck in der Landschaft prankte. Erhellt von Feuer und Licht zu dieser Zeit, in der anständige Menschen im Bett waren. Am Hafen tobte noch immer das Leben und wüteten der Tod und seine Mutter, die Sünde. Die Augen sahen deutlich, was anderen verborgen blieb, blickten unter die Lügen und Halbwahrheiten und Vertuschungen. Offenbarung der eigenen, widerwärtigen Natur. Mord an den Gerechten, den Unschuldigen. Perversion. Verführung zum Abfall. Verlassen der Hilfsbedürftigen. Ausnutzung. Brudermord. Wie eine Rauchschwade stieg die Fäulnis aus dem Herzen der Stadt, wie ein schwelendes Feuer hatte sie sich ausgebreitet, bis in die Häuser und Seelen der Menschen.
Die Person, der die Augen gehörten, lächelte angeekelt. Sie trug eine schlichte braune Robe über einem Schuppenpanzer, einer Lorica Squamata, und starrte seit der halben Nacht bereits auf Genua herab. Straßen und Wege hatte sie gemieden auf dem Weg hierher, war mit leichtem Gepäck und verborgen gereist, sodass sie nun aus den Bergen herabsteigen und sich zunächst sammeln musste. Es hatte wenig Widerstand gegeben auf dem Weg - eine handvoll dünnblütiger Bastarde und ihre höllischen Tiere. Ihr Blut tränkte nun die steinernen Kreise, an denen sie Götzen geopfert hatten.
"Furfur", sprach ein Mann, der ein Ross an der Hand führte. "Wir sind bereit, alle sind hier." Mit einer Handbewegung deutete er hinter sich, wo ein Dutzend Haudegen lagerte, gerüstet in Eisen und Leder. Sie standen still neben ihren Pferden, die allesamt schön und kräftig waren - doch keines konnte sich mit dem schwarzen Pfeil messen, den sein Knappe ihm gerade zugeführt hatte. Der Mann in der Robe nickte, nahm die Zügel entgegen. Einmal noch tätschelte er Boukephalos, ein Geschenk seines dunklen Vaters und sein liebster Besitz, den Hals. "Lasst unser Urteil gerecht und unsere Strafe hart sein", sagte er mit tiefer Stimme, dann stieg er auf.
Er musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, wie die Truppe hinter ihm die Hügelflanke herunter jagte. Er wusste es. Sein drittes Auge war weit geöffnet.
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