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Post by Benedetto on Sept 12, 2014 23:08:26 GMT
Köpfe zählen - die wehrhaften Männer der Stadt Genua ermitteln. So lautete der Auftrag, den Benedetto von ihrer durchlauchtigsten Höchstheit, der Prinzessin Der dicke Mönch hatte bereits in kurzen Gesprächen mit den anderen Mönchen erfahren, dass Ercole nervös ob der Plünderer war. So könne man die Nachtwache auch erklären, hieß es, nicht nur mit der Menschenfreundlichkeit. Benedetto hatte verständnisvoll genickt und das neue Wissen in seinem Geist niedergeschrieben.
Nun saß er erneut mit Ercole zusammen. Dem Prior schien die Anwesenheit des Fetten nicht länger unangenehm zu sein, eine Tatsache, an der das Blut des Kappadozianers sicherlich nicht unschuldig war. Die Komplet war beendet und der Prior schien zwischen dem Wunsch nach Benedettos Anwesenheit und seiner Müdigkeit hin und hergerissen. Doch der Dicke war noch nicht bereit, den alten Mann schlafen zu lassen. Zuerst mussten sie über Alpträume sprechen.
"...und daher hoffte ich, trotz meiner ärmlichen Kutte nicht überfallen zu werden. Man weiß ja nie." Benedetto unterbrach sich. "Aber was rede ich, was sind schon kleine Straßenräuber gegen die Plünderer, die Genua heimgesucht haben." Mit Zufriedenheit nahm er zur Kenntnis, dass Ercole den Mundwinkel verzog und die Hände aufeinanderlegte, nein, aufeinanderpresste. "Ich habe mich wahrlich gefragt, ob noch genügend wehrfähige Männer in der Stadt sind, um einen weiteren Angriff abzuwehren." Er bekreuzigte sich. "Den Gott verhüten möge, natürlich."
Seine dicken Finger waren ineinander verschränkt. Der Kainit blickte auf die blassen Fingernägel. "Ja, diese Frage treibt mich um. Aber wie Antworten darauf finden, werter Prior?" Er seufzte, theatralisch.
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Post by Il Narratore on Sept 13, 2014 11:17:40 GMT
Ercole stützte sich schwer auf seine Faust, mit der er verzweifelt versuchte, seinen Kopf am wegnicken zu hindern. Es gelang nur mühselig, bis das Gespräch dann auf die Sarazenen und ihre Überfälle kam. Das nämlich war - Ercole selbst konnte es nicht leugnen - sein liebstes Schreckthema. "Wir müssen Vertrauen in Gott haben und er wird den Heiden Einhalt gebieten", leierte er herunter, mehr wie eine schon dutzende Male eingeübte Phrase. Ein mechanisches Gebet nach jeder Erwähnung, ohne jede Bedeutung. Etwas ehrlicher fügte er an: "Nun, eure Sorgen sind berechtigt. Obwohl der Bischof endlich zum wahren Leben der Bescheidenheit und seinen Schäfchen zurückgekehrt ist, zweifle ich noch, ob diese Maßnahmen ausreichen werden. Seit Jahren werden wir bereits geknechtet von wiederkehrenden Angriffen. Der im Jahre 935 war zwar der größte bisher, die Plünderung San Syros die teuflischste, aber es gab...oh, ich weiß es gar nicht mehr. Fünf oder sechs in den letzten zehn Jahren?" Der Prior seufzte und fuhr sich nun mit beiden Händen über das Gesicht, rieb sich die müden Augen und versuchte sein Gedächtnis anzustrengen. Zwar war Benedetto öfter in den letzten Wochen eine nächtliche Minderung seines Schlafes gewesen, aber ganz daran gewöhnt hatte er sich nun wirklich nicht. "Wir führen keine Aufzeichnungen darüber, soweit ich weiß. Jedenfalls nicht an zentraler Stelle und das meiste dürfte ohnehin mit den Überresten von San Siro zusammen verbrannt sein." Wieder wanderte das Kinn des müden Priors auf seine linke Faust, während er mit den Fingerspitzen der rechten nachdenklich auf das grobe Holz seines Tisches tippte. "Nun, jeder Priester kennt seine Herde, aber keiner die der anderen."
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Post by Benedetto on Sept 13, 2014 20:12:27 GMT
Benedetto nickte nachdenklich, schmatzte dabei. Dann schlug er mit der einen Hand in die andere. "Und da liegt das Problem. Keine zentrale Zusammenführung. Prior Ercole, was haltet ihr davon, dem Bischof folgenden Vorschlag zu bringen: Um einen Überblick über die Schäfchen Genuas und ihrer Umgebung zu erlangen, erklärt sich unser bescheidenes Priorat dazu, die anderen Geistlichen der Stadt aufzusuchen und jeweils zu erfragen, wie viele Menschen unter ihrer Führung die Kirche besuchen."
Der dicke Mönch nickte. "Wir könnten zudem erfragen, wie viele Kinder im Vorjahr geboren wurden, wie viele Gemeindemitglieder verstorben sind... "Er zwinkerte. "Und wenn dabei auch herauskommt, wie viele Männer waffenfähig sind, so wäre auch meiner Besorgnis geholfen." Ohne auf Antwort zu warten, fügte er hinzu: "Es wäre eine gute Abwechslung für unsere Mitbrüder, und zudem eine, bei der sie nicht in Versuchung geraten. Wenn man von der Versuchung eines Gedankenaustauschs mit ihren Mitbrüdern einmal absieht."
Nun schaute er Ercole an, breit lächelnd.
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Post by Il Narratore on Sept 14, 2014 0:34:32 GMT
Ercole hielt nicht viel von dieser Idee, getraute sich aber nicht so recht, damit herauszurücken. Er druckste eine Weile herum, versuchte erst mit den Pflichten der Männer, dann mit dem Desinteresse des Bischofs und dessen eigener Beschäftigung bei der Armenpflege, Benedetto von seiner Idee abzubringen. Schließlich erklärte er: "Es leben gerade einmal zwei Dutzend Männer hier, Bruder, wenn wir die Novizen und uns beide hinzuzählen. Es gibt alleine in der direkten Umgebung der Stadt, von Marcellino bis Stephano, von Croce bis Siro, sicher ebenso viele Kirchen und ungezählte kleinere Kapellen, Klöster, Einsiedeleien und Wanderprediger, die allein zu zählen eine gewaltige Aufgabe wäre. Selbst wenn einige der Brüder - und es sind sicherlich sehr wenige - in der Lage sein sollten, ihre Klausur für einige Zeit unbeschadet zu verlassen, so müssten sie erst alle diese Gotteshäuser und ihre Pfarrer ausfindig machen, sie müssten jeden einzelnen davon bitten, seine Herde zu zählen und die Ergebnisse aufschreiben. Niemand merkt sich, wieviele Kinder er seit letztem Weihnachten getauft und wieviele Kadaver er geölt hat - es sind einfach zu viele. Das Volk ist gläubig und verzweifelt, Bruder, sie beten nicht nur an einem Altar. Es ist unmöglich."
Etwas versöhnlicher erklärte er sich aber gerne bereit, dem Bischof bei nächste Gelegenheit den Vorschlag einer Zählung zu unterbreiten und womöglich um Hilfe zu bitten.
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Post by Benedetto on Sept 14, 2014 7:01:52 GMT
Der fette Mönch lächelte gezwungen. "Nun ja. Es ist ein Anfang, nicht wahr? Wenn dies geschehen ist, so sagt mir Bescheid. Ich bin gern im Rahmen meines Schwurs bereit, meinen Teil zu dieser Aufgabe beizutragen." Dann verließ er die Zelle des Priors. Draußen ballte sich seine Faust kurz zusammen, ging in Richtung seines Quartiers. Dort ließ er sich schwer auf einen Stuhl fallen. Er rieb sich die Nasenbrücke, kicherte freudlos und begann dann, auf ein Pergament zu schreiben.
Dann hielt er inne. Vielleicht war es gar nicht nötig, alle Pfarrer in langen, mühseligen Gesprächen zu befragen. Wurden denn nicht in den Pfarrbüchern die Seelen festgehalten? Er leckte sich die Lippen. Nach der Vigil würde er Prior Ercole darauf ansprechen. Wenn dem der Fall war, konnte er selbst die Geistlichen aufsuchen und schlicht diese Aufzeichnungen auswerten. Es würde dauern, ja. Aber wenn dann auch noch der Bischof seinen Segen gab, so mochte die Aufgabe doch zu bewältigen sein.
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Post by Il Narratore on Sept 16, 2014 16:14:58 GMT
Es dauerte Wochen, ehe Prior Ercole mit einer Antwort des Bischofs Romperto zu Benedetto kam. Nicht etwa, dass er sich nicht bemüht hätte oder das dauernde Drängen nicht sein Herz erweicht hätte. Aber der Bischof war ein beschäftigter Mann, der zu jeder Tages- und Nachtzeit für die ungezählten Menschen Genuas predigte, betete, ölte, salbte und segnete. Bei seinen Pflichten war es schwer, Gehör für den Prior einer Gemeinschaft von ausserhalb zu finden. Irgendwann hatte Ercole aber doch Glück und erwischte ihn, als der Bischof seine Abendpredigt in San Siro gehalten hatte.
Der Bischof hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und gesagt, er hätte nichts gegen eine Zählung einzuwenden, sofern die Priorei sich nicht von ihren Aufgaben ablenken ließe. Der Prior könne mit so vielen Geistlichen spreche, wie es ihm beliebe, denn es gäbe ja kein Sprechverbot oder dergleichen. Allerdings bestand er darauf, bei diesem Vorhaben ganz besonders die Obdach- und Erwerbslosen zu berücksichtigen. Diese Zahl interessiere ihn tatsächlich, denn nur dann wisse man, für wie viele leidende Seelen man überhaupt Häuser und Nahrung und Arbeit brauche.
Nach Pfarrbüchern gefragt, lachte Ercole nur. Es hatte Brände gegeben in den letzten Jahren - hatte Benedetto denn nicht die Verwüstung, die Ruinen und die Zerstörung gesehen? - bei denen das wenige an Unterlagen zerstört worden war. Pergament war eine teure Angelegenheit und das billigere Papyrus wegen der vielen Seeräuber nur schwer zu bekommen und damit ebenso teuer, was die Anfertigung und Instandhaltung von Aufzeichnungen über etwas so profanes wie Geburtenzahlen erschwerte. Die Priester Genuas hatten die letzten zehn Jahre bei Gott genug damit zu tun gehabt, trauernde Witwen, Brüder, Schwestern, Kinder und Eltern zu umsorgen und ungezählte Leiber für ihren letzten Weg vorzubereiten, als dass sie Zeit gehabt hätten Almosen für Pergament zusammenzusparen.
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Post by Benedetto on Sept 16, 2014 17:33:54 GMT
Benedetto seufzte vernehmlich, als er das Maß des Leidens erfuhr - für seinen sterblichen Zuhörer ein Ausdruck seines Mitgefühls. Tatsächlich bedauerte der fette Mann, nicht selbst anwesend gewesen zu sein, vielleicht nicht gerade während der Plünderungen, aber danach... danach. Es musste ein ausgesprochen interessanter Anblick gewesen sein, die Ruinen, die Leichen... Er lächelte traurig und nickte zu Ercoles weiteren Ausführungen.
"Der Bischof scheint ein verständiger Mann" nickte Benedetto schlussendlich. "Mir scheint, wir sollten die Brüder damit nicht behelligen. Stellt mir einen Empfehlungsbrief aus, so kann ich auch gleich die anderen Diener des Herren in der Stadt kennenlernen. Ich werde sie an meinen Abenden aufsuchen und befragen - und natürlich soll der Bischof seine Zahlen bekommen. Sein Mitleid mit den Armen ist ausgesprochen lobenswert."
Er lächelte Ercole an. "So kann ich mich nützlich machen, bis mehr Interessenten für meine heilerischen Tätigkeiten vorstellig werden."
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Post by Il Narratore on Sept 21, 2014 18:14:27 GMT
Prior Ercole hatte nicht gelogen. Benedetto hatte sich allnächtlichen Anstrengungen aussetzen müssen, um auch nur im Ansatz einen Überblick über die Menge an Köpfen der Stadt Genua und Umgebung zu erhalten. Es gab neunzehn Kirchen in der Domäne, davon acht innerhalb der Stadtmauern - die des heiligen Georg, des heiligen Ambrosius, des heiligen Genesius, des heiligen Donatius, des heiligen Damianus, sowie die Kreuzkirche, die Kirche der Mutter Maria und im Kastell des Bischofs die Kirche des heiligen Silvester - und drei in unmittelbarer Umgebung vor den Toren der Stadt: Der Heilige Petrus bei den Toren, die Heilige Andrea und die Maria Magdalena bei den Weinreben. Im von der weißen Prinzessin beanspruchten Gebiet zwischen Bisagno, Luccoli und dem Buccebovis gab es weitere acht Kirchen sowie drei Klöster, namentlich die Kirche des heiligen Stephan im Borgo Incrociati, die Wegkirche des heiligen Martins an den Hängen des goldenen Hügels direkt am Pedemontibach, unweit hiervon das Kloster des heiligen Vinzent. Die Kirche des heiligen Pancratius lag direkt gegenüber der Basilica di San Siro im Dörfchen um den Wehturm, die Kirche des heiligen Savinus zwischen den Klöstern San Marcellino und Santi Vittorio e Sisto an der Strada Ponente, die "kleine Grabeskirche" direkt an der Kreuzung von Ponente und Buccebovis im Dörfchen "Contrata Predis" sowie die Kirche des Heiligen Antonius etwas stromaufwärts auf dem Petraminuta. Etwas ab vom Weg lag die kleine Kirche für die Bergdörfer im Gebiet des Luccoli: San Sebastiano colle frecce.
Hinzu kamen dreiunddreißig weitere Kapellen innerhalb und außerhalb der karolingischen Stadtmauern, von denen die bedeutendste die jahrhundertealte Wegkapelle des Erzengels Michael Incrociati und die Kapelle der Gottesmutter Maria unweit des Bischofkastells lag und nicht mit der gleichnamigen Kirche auf der hafenwärtigen Seite des Kastells zu verwechseln war.
Jede der Kirchen, die meisten Klöster und sogar einige Kapellen verfügten über eine mehr oder minder feste Gemeinde. Da es sich bei den Italiern um einen abergläubischen und gottesfürchtigen Haufen handelte, besuchten die meisten Genueser sogar mehrere Gotteshäuser regelmäßig. Allein jeden einzelnen Priester aufzutreiben stellte eine Herausforderung dar, mitten in der Nacht, denn die meisten schliefen zu dieser Zeit. Mitternachtsmessen waren ungewöhnlich und nur der hereinbrechende Winter mit seinen frühen Sonnenuntergängen ermöglichte es Benedetto überhaupt, die Dorfkirchen der Umgebung noch einigermaßen besetzt vorzufinden.
Von den neunzehn Kirchenpfarrern der unmittelbaren Domäne gaben sich lediglich drei begeistert von der Idee - diejenigen der reicheren Pfarrbezirke rund um das Kastell -, den acht Geistlichen des Umlandes war die Idee recht gleichgültig und diejenigen Priester, deren Gemeinde am heftigsten von der Verelendung betroffen waren, schimpften Benedetto einen weltfremden Eremiten. Dennoch erklärten sich einige bereit, ihre Messdiener beim Heraustreten der Gemeinde aus dem Gottesdienst und während der Kollekte die Köpfe zählen zu lassen. Die Priester von San Sebastiano, der kleinen Grabeskirche, von St. Martin und der Kreuzkirche teilten Benedetto mit, dass dieser gefälligst selbst zählen sollte - sie wären schon grade nur genug für den eigentlichen Gottesdienst.
Doch selbst dann waren die Zahlen nur äußerst unzuverlässig. Keine der Kirchen bot genug Platz für ihre gesamte Gemeinde und in die Basilica di San Siro strömte das Volk aus den Dörfern und der Stadt herbei, weit über die Grenzen des Pfarrbezirks hinaus. Es wurden Sonntags drei oder sogar vier Messen gelesen, um jedem Bürger die Möglichkeit der Lobpreisung Gottes zu geben, nämlich zu den für Benediktiner üblichen Zeiten des Terz, Sext, Non und Vespers. Dies hatte leider zur Folge, dass es große Überschneidungen bei den Besuchern der Gottesdienste gab. Denn sicherlich hielten zwei oder drei Segnungen besser als eine. Überhaupt konnte man in diesen Zeiten nicht genug göttlichen Schutz haben.
Von diesen kamen zwischen drei und achthundert auf Contrada Predis, etwa vier bis eintausendachthundert auf Borgo Incrociati und Borgo di Bisagno- die gerade wegen ihrer Lage in der Nähe von zwei Kirchen, einer Kapelle und einem Kloster nur schwer einzuschätzen waren, fünfhundert bis tausend auf den Burgus, weitere vier bis achthundert auf Maddalena und geschätzte weitere tausend auf die unzugänglichen Wäldchen und Hügel des Luccoli und Castellettos. Insgesamt lebten somit nach Schätzungen der Pfarrer mindestens eintausendsechshundert und höchstens viertausendundzweihundert Menschen vor den Toren der Stadt.
Auch die Anzahl an Obdachlosen erwies sich als äußerst unzuverlässig. Sie ließen sich einfach nicht zählen, da sie zwar ihren Pfarrbezirken mehr oder weniger treu blieben, Unterschlupf aber überall in der Stadt suchten und einige sogar zu dem äußerst unehrenhaften Handwerk der Räuberei griffen, um sich zu ernähren. Solche Leute kamen selbstverständlich nicht in Gotteshäuser. Pfarrer Giona von San Giorgo behauptete, allein in seiner Gemeinde rund um den Marktplatz trieben sich fünfhundert Menschen ohne Dach über dem Kopf herum und der von San Geminiano übertraf ihn gar mit mindestens eintausend armen Seelen. Der Geistliche der Kirche San Damiano dagegen spielte das Problem herunter und redete von vielleicht einigen Dutzend in seinem Bezirk, kaum mehr als drei oder vierhundert in der gesamten Stadt. Wahrscheinlich rechnete er aber jene Armen heraus, die an der Piazza dei gatti neri, in Kirchen, bei Freunden und Verwandten und den Scheunen der Bauern Zuflucht vor den Elementen gefunden hatten. Einig war man sich lediglich darüber, dass der Nordwesten und der Hafen der Stadt am härtesten betroffen war und die aktuellen Reparaturen in ihrem momentanem Tempo Jahre brauchen würden, um auch nur die Hälfte der Menschen aufzunehmen. Benedetto kam nach der Zusammenzählung aller Angaben schließlich auf etwa zweitausenddreihundert bis fünftausendsiebenhundert arme Seelen, die Hilfe benötigten. Der Rest der Stadt wurde auf fünfzehntausendundsechshundert bis neunzehntausendneunhundert Menschen geschätzt, wobei der Großteil im alten Siedlungskern Mascharana, Domus und Platealonga konzentriert war.
Letzten Endes kam Benedetto auf eine Zahl zwischen zwanzig und dreißig mal tausend - je nachdem, für wie realistisch er die Anzahl der Obdachlosen und der Städter einschätzte.
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Post by Benedetto on Sept 21, 2014 19:46:10 GMT
Als der dicke Mönch verstand, auf was er sich da eingelassen hatte, war er vom Ausmaß seiner Aufgabe zunächst wie erschlagen. Doch dann machte er sich ans Werk. Er begann mit den Kirchen in der Stadt und arbeitete sich dann langsam zu den Außenbezirken vor. Der Herbst zog ins Land und der Winter brach an. Benedetto nutzte die langen Nächte so gut es ging und dennoch ging die Zählung quälend langsam voran. Wenn wenigstens die Zahlen genau gewesen wären - aber nein, die Schätzungen lagen weit auseinander.
Schließlich, am Ende der ersten Novemberwoche, war die erste Zählung beendet. Benedetto hatte alle Ergebnisse fein säuberlich notiert und bereits während der Erhebung anfänglich zusammengerechnet. Das Endergebnis war niederschmetternd unpräzise, aber es war immerhin ein Ergebnis. Zunächst teilte er Pater Ercole die Ergebnisse für den Bischof mit. Dem hohen Geistlichen solle ausgerichtet werden, dass die Zahl der Obdachlosen wohl zwischen 2.000 und 7.000 liege, wobei eine Annahme von 5.000 wohl einen guten Mittelwert bildete.
Dann begann Benedetto mit einer ungleich problematischeren Rechnung. Das Verhältnis von Männern und Frauen, so wurde von den meisten Geistlichen geschätzt, lag nach den Plünderungen bei etwa Eins zu Drei. Wenn er von 20.000 bis 30.000 Menschen in Genua ausging, so waren umgerechnet etwa 7.000 bis 10.000 davon Männer. Er rechnete damit, dass viele der kampffähigen Männer während der Angriffe der Sarazenen umgekommen waren. Wahrscheinlich war zu diesem Zeitpunkt mindestens ein Drittel der Männer nicht kampffähig - zu jung, zu alt, verkrüppelt oder sonstwie ungeeignet.
Damit blieben etwa 5.000 bis 7.000 waffenfähige Männer übrig. Zumindest, wenn man positiv dachte. Vielleicht waren es sogar noch weniger. Benedetto seufzte. Er würde der Ahnin seine Erkenntnisse darlegen und hoffte, dass er seine Zeit nicht massiv verschwendet hatte. Bei sich selbst bezweifelte er, dass eine genauere Zählung möglich war, aber wer wusste schon, was im Kopf des alten Kainskindes vor sich ging?
Mit einem formellen Brief bat er um eine Audienz. Dann hieß es warten.
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Post by Il Narratore on Oct 1, 2014 14:11:04 GMT
Die Antwort der Prinzessin ließ bis zum neuen Jahr auf sich warten. Entweder war ihr das schnelle Ergebnis des Kappadozianers gleichgültig oder sie war unwillig, sich ihm öfter zu zeigen. Sie fiel aber positiv aus und bestellte den feisten Mönch an den "Kalenden des Martius" in ihre Villa. Dort erwartete ihn das übliche Schauspiel mit den zwei salutierenden Wachen, den sich öffnenden Portalen und dem zuvorkommendem Luccio, der auch in dieser Nacht wieder auf leichte Plauderei verzichtete. Stattdessen genoß er das halbgefrorene Wasser des Atriums, das in für Italiener arktischen Temperaturen dalag. Raureif knirschte unter seinen Stiefeln
"Ihre Majestät Aurore, Prinzessin Genua", lautete dieses Mal die schlichte Ankündigung des Allesfressers, ehe der Vorhang wieder fiel und er sich wie gewohnt zwischen dem Gast und der Ahnin positionierte.
"Ave, Benedetto", begann Sie wieder auf Latein und bedeutete dem Kappadozianer mit einem Wink ihrer rechten Hand aufzustehen. "Es hieß, ihr hättet Neuigkeiten für mich?" Ihre Stimme war so zart und rein wie eh und je, ein Flüstern, eine Schmeichelei, ein neckes Streichen über den kugelrunden Kopf des Mönches, während sie schlicht auf ihrem Thron saß. Etwas gelangweilt, etwas bequem und gefläzt das Kinn auf ihrer linken Hand aufgestützt, die Beine übereinander geschlagen. Sie trug wieder eine weiße Tunika, die ihr wieder über den Knien endete und den Blick auf ihre schlanken, weißen Beine und Füße freigab, die sich an der Kälte gar nicht zu stören schienen. Wie das letzte Mal schlappte sie ungeduldig mit den Sandalen, die ein fleischiges Klatschen hervorbrachten, wann immer das Leder auf ihre ansonsten nackten Füße traf. Neu war nur, dass sie auf das Übertuch, die Palla, verzichtet hatte und so ihr Hals, ihre Schultern und Arme und sogar Teile ihres Dekolletés sichtbar waren. Weiß und unschuldig wie frisch gefallener Schnee war ihre Haut, noch weißer als die viel zu kurze Tunika.
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Post by Benedetto on Oct 1, 2014 15:14:46 GMT
Der fette Mönch hielt den Blick gesenkt. Die Hand, welche seine Aufzeichnungen hielt, zitterte leicht. Denn sein Verstand war in der Lage, zu erahnen, was Alter und Macht bedeuteten - und hier, vor ihm, saß beides. "Erhabene, ich bin eurem Wunsch so gut ich vermochte gefolgt. Ich habe viele nächtliche Stunden damit verbracht, die Ergebnisse zu ermitteln, die ihr von mir haben wolltet." Er leckte sich die Lippen. "Leider, so fürchte ich, sind viele Aufzeichnungen in den Plünderungen verloren gegangen." Die nächsten Minuten verbrachte Benedetto damit, zu skizzieren, wie er weiter vorgegangen war. Dass er sich überlegt hatte, dass die Priester der Gemeinden zumindest eine grobe Übersicht über ihre Schäfchen hätten. Wie er dank der Erlaubnis des Bischofs für Ercole eine Geschichte hatte, welche den wahren Zweck der Zählung verschleierte. Wie er nächtelang die Priester und Pfarrer befragt hatte, die Ergebnisse dann verglichen, die Differenzen festgestellt hatte. Er fasste sich dabei so kurz wie es ging, ohne etwas Wichtiges auszulassen. Dann kam er zum Fazit, nannte die Zahl von 5000 bis 7000 Wehrfähigen und schloss mit den Worten: "Warum ich euch dies derart detailliert berichte, oh Hochverehrte, ist, dass ich euch deutlich machen will, was meine Zahlen aussagen können - und was nicht. Die Schätzung beruht nun einerseits auf ungenauen Zahlen und andererseits auf meiner persönlichen Beobachtung, die sicher nicht allumfassend ist." Er verneigte sich tief. "Ich bitte euch, diese Unzulänglichkeiten zu entschuldigen. Ich hatte eigentlich noch vor, die Wachen der Stadt aufzusuchen und deren Mannesstärke zu ermitteln - der Vollständigkeit halber - aber eine Begegnung mit einem verdächtigen Charakter zwang mich dazu, dieses Ziel hintanzustellen." Benedetto faltete die speckigen Hände. "Ein Ventrue, der sich Maximinianus nennt, hat mich unter Lügen zu sich gerufen - und behauptet, ihr hättet ihn gesandt. Er kannte Details meines Auftrages, doch ich will sichergehen, dass er die Wahrheit sprach." Dann zuckte er mit den Schultern. "Die Hauptarbeit war zu diesem Zeitpunkt beinahe getan und offenbar empfand er es als unter seiner Würde, beim letzten Schliff zu helfen. Mein entsprechendes Angebot hat er jedenfalls ignoriert." [Editiert wegen Verwirrung.]
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Post by Il Narratore on Oct 2, 2014 10:56:46 GMT
Die weiße Prinzessin sah nicht so aus, als interessiere sie das KleinKlein seiner Ausführungen tatsächlich. Je mehr der Kappadozianer von Zahlen redete, je mehr er sein Vorgehen erleuterte, desto tiefer senkten sich ihre Augenlider und grub sich ihr Handballen tiefer in das weiche Fleisch ihrer Wangen. Erst bei den letzten beiden Zahlen kam etwas Leben in die Statue auf dem Thron und sie lehnte sich nach vorne, die Ohren gespitzt. "Hmmm...", machte sie schließlich und ließ sich wieder zurückfallen. "Das habt ihr gut gemacht, Benedetto", lobte sie und deutete mit der rechten Hand zu ihrem Ghul. "Lucio, wie hoch waren die Zahlen der letzten Zählung?" Der Allesfresser salutierte und verkündete dann: "Der Herr Lodovico di Cremona zählte im Jahre 927 nach Christus eine Bevölkerung von dreiunddreißigtausendvierhundertundsiebzehn Menschen, von denen etwa zwölftausend Männer im wehrfähigen Alter ohne behindernde Verletzungen waren." Daraufhin trat er wieder zurück und nahm stramm Haltung an.
Die Prinzessin seufzte vernehmbar. Ein Verlust zwischen zwölf- und viertausend Menschenleben, eine riesige Anzahl in nur zehn Jahren, kaum zu ersetzen. All die Menge an Blut und Arbeitskraft... "Sechstausend Männer, deren dritter Teil wahrscheinlich aus wertlosen Unerwünschten besteht." Sie ließ die Worte in der Luft hängen, ohne auf ihre Bedeutung weiter einzugehen. Offenkundig erachtete sie den Kappadozianer für intelligent genug, ihre Bedeutung selbst herauszufinden.
"Oh, zweifellos ist mein lieber Ururgroßneffe ein...verdächtiger Charakter", gab die Ahnin zu, "Doch leider einer, den ich nahe bei mir haben sollte, ehe mein Vetter noch jemand kompetenten schickt. Ich dachte eigentlich, ihr könntet ihn ein wenig im Auge behalten, denn ihr scheint die gleichen Interessen zu verfolgen." Ihre kristallenen Fingernägel tippten ungeduldig auf den Löwenmähnen herum.
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Post by Benedetto on Oct 2, 2014 12:31:09 GMT
Benedettos Augen hatten sich bei dem Wort 'Ururgroßneffe' kurz geweitet, doch als die Prinzessin weitersprach, entspannte sich sein dicklicher Körper sichtbar und er rieb sich seine Kinne. "Also habt ihr ihn tatsächlich geschickt. Es ist mir unangenehm, dass ich ihn nicht euren Wünschen gemäß einsetzen konnte, aber die meiste Arbeit war zu diesem Zeitpunkt schon getan." Dann schüttelte er den Kopf. "Ich habe ihm angeboten, dass er mir zur Hand gehen könne - tatsächlich hätte er die optionale Recherche bei der Stadtwache übernehmen können - doch er zog es vor, meine Vorsicht als Unhöflichkeit zu werten, mir Beleidigungen an den Kopf zu werfen und von dannen zu ziehen." Er faltete die Hände. "Ich hatte noch viel zu tun und keine Zeit für diese Kindereien. Also habe ich ihn gehen lassen." [Editiert wegen Verwirrung.]
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Post by Il Narratore on Oct 3, 2014 13:02:50 GMT
Die blauen Augen der Aurore verengten sich zu Schlitzen. Die Ahnin lehnte sich vor auf ihrem Thron, spießte den Kappadozianer mit ihrem Blick auf, wie den Wurm der er war. "Wie witzig", sagte sie in betont ruhiger Stimme und so langsam, dass auch einer, dessen Muttersprache nicht Latein war, verstehen konnte, wie wenig amüsiert sie war"Dass das Blut von meinem Blut das genaue Gegenteil behauptet." Das Getippe ihrer Fingernägel hatte gestoppt. Es war ruhig geworden in dem Saal, so ruhig, dass die Atemlosigkeit des Untodes drückend auf ihnen lastete. Lucio wagte das Atmen wohl nicht, denn trotz seiner schnauffähigen Fülle war er still. Die Schweinsäuglein waren geweitet auf den Kappadozianer gerichtet. Prinzessin Genua ließ diesen Fakt in der Luft schweben, schwer und dräuend, ehe sie sie mit einem Zucken ihres Zeugefingers Lucio veranlasste, ein Dokument hervorzukramen. Er räusperte sich und trug vor: "Benedetto teilte mir mit, dass er mit der Ausführung seiner Aufgaben bereits fertig sei und er meine Hilfe weder wolle noch brauche. Mein Eindruck von seiner Person ist ein schlechter. Nicht nur scheint es ihm an dem für einen hohen Clan nötigen Etikette zu fehlen, er missachtete auch die erste Tradition indem er sich nicht ordentlich vorstellte."
Wieder verhallte das Gehaspel des Lucio, das dieser auf Italienisch vorgetragen hatte, in der Stille der Villa. Die Prinzessin begutachtete eine Weile den fetten Mann und fügte schließlich mit scharfem Ton hinzu: "Das Gezänk zweier Neugeborener schert mich nur insoweit, als dass es schädlich für meine Domäne ist. Details interessieren mich nicht. Ich entsendete Maximinianus, der aus der Linie meines Großonkels entstammt, um dir bei deiner Aufgabe zu helfen und umgekehrt gilt dies für dich." Die junge Frau auf dem Thron sackte wieder zurück gegen ihre Thron und schloss für einen Moment die Augen. Ihre weiße Stirn warf Falten, sie legte eine zarte Hand auf ihre Schläfe und mahlte mit den Kiefern. Als lastete der Zorn und Schmerz der ganzen Welt auf ihr, war sie in diesem Moment weniger die uralte Prinzessin, die Ahnin und die Enkelin eines der mächtigsten Monarchen der Nacht. Sie war eine junge Frau, schlicht und einfach, die das Geschrei ihrer Kleinen nicht ertragen konnte. "Geh zu meinem Neffen und verzeih ihm seine . Ich bin sicher er erwuchs aus dem Drang mir zu gefallen", sagte sie und öffnete wieder die blauen Augen. "Es ist eine Schwäche unserer Art, steif und unbeugsam zu sein - der Tod stellt vieles mit uns an. Dennoch: Deine Zahlen sind vernünftig, Benedetto, deine Methoden wohl solide und ich sehe keinen Anlass für dich, mich mit ihnen zu betrügen. Ich danke dir für deine Unterstützung und bitte dich um weitere. Es ist von unbedingter Notwendigkeit, dass ihr beide euch zusammenschließt. Wir brauchen die Kirche und die Seelen der Menschen, wenn wir den Mohammedanen die Stirn bieten wollen. Ihr beide seid Männer der Christuskirche und ich kann und will sie nicht einem allein vermachen, der so unbedarft und roh wie das jüngste Blut ist."
Schließlich nahm sie die Hand von ihrer Schläfe und machte eine wegschickende Handbewegung. "Nein, wartet. Bringt den Bischof und die Klöster dazu, ihr Geld nicht für unsinnigen Schmuck und Kunst herauszuwerfen, sondern für Schwerter und Männer und ich will meine Meinung überdenken."
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Post by Benedetto on Oct 3, 2014 15:17:15 GMT
"Hochgeehrte Prinzessin..." Der Kappadozianer war vor dem Zorn zurückgeschreckt und sank auf die Knie. Seine Stimme zitterte "...es ist beschämend, dass mein Ruf derart in den Schmutz gezogen wird." Er zögerte, aber dann sprach er doch weiter, hastig. "Euer Neffe zog mich unter Lügen heran, wollte dann, dass ich ihm ohne irgend einen Beweis glaube und die für diese Stadt wichtigen Informationen mit ihm teile." Seine Augen waren starr zu Boden gerichtet. "Würde ein Spion der Sarazenen nicht genau so verfahren? Das, was er als Unhöflichkeit wahrnahm, war nichts als mein Misstrauen, mein Wunsch, die Stadt Genua vor Schaden zu bewahren." Er leckte sich die Lippen. "Auch ich hätte ihm Vorwürfe machen können, ob seiner Lügen und Beleidigungen, aber eure Zeit ist dafür wahrlich zu kostbar. Daher werde ich schlicht versuchen, eurem Wunsch zu entsprechen und Frieden walten zu lassen." Eine kurze Pause. "Auch werde ich sehen, was ich bezüglich eures Auftrages tun kann, doch scheint es unwahrscheinlich, dass Männer Gottes in Waffen investieren, statt den Bedürftigen zu helfen, werte Herrin!" [Editiert wegen Verwirrung.]
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