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Post by Il Narratore on Nov 29, 2015 22:27:22 GMT
Das Ächzen und Stöhnen der Prinzessin war gut hörbar, auch ohne dass sie ihren Mund verzog oder es nötig hätte, Worte zu äußern. Es war das Geräusch sich dehnenden Fleisches, alter Knochen und trockenen Holzes, das vom Thron zu hören war, als Aurore, Enkelin des Monarchen von Paris, sich weiter nach hinten lehnte. Ihre Augenbrauen zogen sich skeptisch nach oben, ihre Lippen verzogen sich und wanderten in die linke Ecke ihres Mundes, die Zähne gebleckt und das Näschen gerümpft. "Huh", schien sie zu machen, aber kein Wort war zu hören. Ein Gesicht des Misstrauens und der Zweifel. Womöglich des Ekels.
"Das Blut der Sibylle ist mir bekannt", sagte sie schließlich nach langer Pause. "Wie auch seine Zweifelhaften Gaben. Doch du überschätzt deinen Wert. Es gibt einen Unterschied zwischen Ehrlichkeit und Verachtung, zwischen Respekt und Schönfärberei." Einen Augenblick lang ließ sie diese Worte einsinken, ließ sie im Raum schweben und schenkte ihnen ein gehöriges Maß an Gelegenheit dazu. Dann erst: "Deine Erzeugerin und der Prinz von Arles hätten gut daran getan, dir diesen Unterschied beizubringen", sagte sie harsch.
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Post by Angelique on Nov 30, 2015 12:31:02 GMT
Angelique zog ihre Hand zurück und ließ sie schlaff an die Seite fallen. Geknickt und mit gesenktem Haupt flüsterte sie nur traurig: "Was immer Euch beliebt, Herrin Genuas, Ihr braucht mich wirklich nicht."
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Post by Il Narratore on Dec 7, 2015 17:47:36 GMT
"Warum also sollte ich dich behalten", überlegte sie laut, die Neugeborene wie ein Kätzchen behandelnd oder einen Welpen, den zu ertränken man noch erwägte. Das Gerücht mochte einem durch den Kopf gehen, dass die alten Römer pflegten, Verwandtenmörder mit allerlei giftigen oder bissigen Tieren zusammen in einen Sack zu nähen und im Tiber zu ersäufen. Die Frage war nur, wer hier die Rolle der Schlange und wer die des Verbrechers übernehmen würde. "Wozu eine weitere Schlange in eine Grube werfen, in der bereits ihre Geschwister und allerlei andere unnütze und diebische Biester sich tummeln und nach meinem Halse schnappen?" Es schien, als hätte die Ahnin sich für eine Rollenverteilung entschieden. Ihre spöttisch hochgezogene Augenbraue ließ aber berechtigte Zweifel daran aufkommen.
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Post by Angelique on Dec 7, 2015 21:14:34 GMT
Angelique erkannte rhetorische Fragen, wenn sie sie hörte, und wollte lieber nichts sagen, fürchtete sie doch, das sie die Gedankengänge der alten Kreatur sonst stören würde. Überdies würde die Personifikation der Hybris nur einen Gesprächspartner als kompetent dulden, ihr zu antworten: sie selbst natürlich! Also hoffte sie, die klitzekleine Stimme des höreren Selbst würde in der Herrin aufgeblähter Anima einen vernünftigen Gedanken wecken, warum sie Angelique dulden sollte, und so wartete sie. Besorgt hörte sie, wie die Herrin der Stadt ihre eigenen Untergebenen mit Schlangen verglich und ihnen zudem unterstellte, sie würden ihr "nach dem Halse schnappen". Paranoia war offenbar die Stimme der Dämonen, die Aurore zuflüsterten.
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Post by Il Narratore on Dec 12, 2015 22:22:58 GMT
Die kristallinen Fingernägel der Prinzessin Aurore tappten ungeduldig auf dem schwarzen Holz ihres Thrones herum. Ungeduldig abwartend, trippelnd, füllten sie die anhaltende Stille.
Schließlich langte es der Prinzessin wohl. "Ich fasse zusammen: Du hast nichts vorzubringen, als das Hörensagen, du könntest meine Untertanen, die mir die letzten Jahre treu gedient haben und denen du selbst Unehrlichkeit vorwirfst, an Ehrlichkeit übertreffen. Bist aber selbst nicht in der Lage, ehrlich über deine Fähigkeiten zu sein."
Ihr Tonfall war eine Mischung, die sich am ehesten als gelangweilte Frustration beschreiben ließ. "Aber ich bin eine gütige Herrin. Du sagst, du hättest keine Angst, mir die Wahrheit zu sagen - im Gegensatz zu allen anderen. Nun denn: Beweise es mir. Bringe mir eine Geschichte meiner Untertanen, die ich noch nicht kenne. Erzähle mir etwas über diese angebliche Falschheit meiner Untertanen. Dann werde ich darüber nachdenken, ob du meinen guten Willen endgültig verspielt hast oder nicht."
Rote Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. "Solange erlaube ich dir, dich in meiner Domäne aufzuhalten und außerhalb der Stadtmauern zu nähren. Du wirst in fünf Jahren Bericht erstatten am Tag der Geburt deines Herrn. Bis dahin gebe ich dir Zeit." Die Bewegung ihrer linken Hand und die drückende Stille im Thronsaal erklärten die Audien unmissverständlich für beendet.
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Post by Angelique on Dec 13, 2015 9:07:06 GMT
Angelique verneigte sich tief und wich zitternd rückwärts vom höllischen Thron der alten Kreatur zurück. Wäre ihre arme Seele nicht eben gerade von der Dämonin wie ein Bauernmädchen von einer Horde Sarazenen geschändet worden, gefressen und zerkaut wie von einem Loup Garou und wieder ausgespien, dann wäre sie bestimmt kreischend geflohen. Ihre Anima in ihr bettelte noch immer, sie solle das tun und erst anhalten, wenn sie der Welten Rand erreichte. So aber war sie in der gleichgültigen Gelassenheit eines Hiob und entfernte sich vom Heidengötzen, der sich eine so harmlose, freundliche Maske gegeben hatte. Ihre Herrin wäre so erfreut gewesen, hätte sie gesehen, wie wenig es gebraucht hatte, dass diese Larve fiel, aber Angelique war nur zum finalen Tode erschrocken und würde lange, vielleicht für immer, am Schrecken dieser Nacht zu leiden haben. Wie die Nägel, die dem Herrn ins Fleisch getrieben worden waren, hatten sich die Strahlen der Schwarzen Sonne, von der die falsche Morgenröte kündete, in ihre zarte Seele getrieben und unerträgliche Pein erzeugt. So wenig hatte zur Erlösung durch das Märtyrertum gefehlt. So wenig...
Draußen rief sie verstört nach Roger, dass er sie fortbrachte. Da erst fiel ihr ein, dass er ja siech lag und gar nicht hier war. Wie war sie dann hergekommen? Welch Antoniusfeuer hatte ihr die Ankunft vorgegaukelt? Noch erschrockener als zuvor floh sie in Nacht.
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