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Post by Benedetto on Sept 15, 2014 15:50:19 GMT
Der kühle Nachtwind strich über Benedettos Gesicht, als er aus der Nebenpforte der Priorei trat. Die Komplet war soeben zuende gegangen und die Mönche suchten die Nachtquartiere auf. Mittlerweile hatten sich die meisten an Benedettos Anwesenheit bei den nächtlichen Gebeten gewöhnt, nach all den Wochen, die er nun bereits in San Marcellino verbracht hatte. Die Mönche hatten heute besonders schwer gearbeitet - es mussten einige Gebäude des Klosters gründlich gereinigt werden - und daher hatte Prior Ercole eine späte Vigil angekündigt.
Während die Mönche den Schlaf der Erschöpften schliefen, hatte Benedetto das Kloster verlassen. Seinen Wanderstab in der Hand blickte er sehnsüchtig in Richtung der Stadt, in Richtung all des Lebens, dass dort auch zu dieser Stunde noch in den Wirtshäusern stattfand. Er seufzte leise und schritt dann in eine andere Richtung. Seine Stiefel trugen den fetten Leib mit einer unerwarteten Geschwindigkeit über die nächtliche Straße und Benedett genoß den Geruch der Blumen am Wegesrand, das Plätschern eines kleinen Baches und den klaren Sternenhimmel - Eindrücke, die seine vampirischen Sinne ihm zutrugen, tief in sein Bewusstsein hinein.
Schließlich hielt er inne. Vor ihm lag sie, die Metropole von San Siro, ein Gräberfeld. Dies war sein Ziel. Statt der Sünde zu ergehen, würde er heute Nacht diesen Ort betreten, zwischen den Gräbern wandeln, nachdenklich und meditierend. Seine Hand umschloss den Stab fester, als ihn Selbstmitleid übermannte. Ein Schluchzen entsprang seiner Brust. Allein unter Toten... Es lag etwas Ernüchterndes in dem Gedanken und auch wenn er selbst nicht mehr alterte, so war doch das Bewusstsein um das endgültige Ende aller Dinge tief in seiner untoten Natur verankert.
Es hatte nicht geholfen, dass er nach seinem ersten Tod neben einer Leiche aufgewacht war, ohne Orientierung, in einem Grab.
Oh, es lag durchaus Faszination in Leichen. Aber es lag auch Faszination in anderen Dingen und ihm fehlte der Ausgleich. Doch noch konnte er sich beherrschen. Sein Blick glitt über die Gräberreihen, als er die sündigen Gedanken verdrängte. Er untersuchte ihre Struktur, versuchte zu verstehen, wo der neuere Teil des Friedhofs war und wo die älteren Gräber. Suchte nach Gruften, größeren Grabstätten. Und wenn der Totengräber eine Hütte nahe seines Arbeitsortes hatte, so versuchte er auch, diese zu finden.
Die geschärften Sinne angespannt, durchschritt Benedetto die Nekropole.
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Post by Il Narratore on Sept 16, 2014 16:58:32 GMT
Die Nekropole neben der Kathedrale San Siro war weitläufig. Benedetto hatte Schwierigkeit ihr Ende auszumachen, denn die Gräber erstreckten sich in jede Richtung, soweit das Auge reichte. Es war kein ebenes Feld, auf dem vereinzelt Gräber standen - natürlich nicht, denn ebene Felder gab es in Ligurien überhaupt nicht. Der ganze Gottesacker war übersäht mit kleineren und größeren Hügeln und alten, garstigen Bäumen, deren Wurzeln sich um Grabmäler und Statuen zogen. Man wollte nicht zu genau hinsehen, wollte nicht zwischen den etwas neueren Platten Reste alter Sprachen und Fresken finden, wollte nicht wissen, woraus die Erde hier überall gemacht war.
Je weiter hinein Benedetto ging, desto unleserlicher wurden die Namen auf den Steinplatten, desto archaischer. Zunächst traf er noch eine Lodovicos und Giaccobbos de Genova, Mercatore 817-848 oder diverse Francescos, später nur noch einen Marcus, Lucius, Gaius und Publius nach dem anderen. Die letzten Steintafeln ließen sich entweder gar nicht mehr lesen oder waren bereits zersprungen, umgekippt, zerstört oder halb in einem Morast versunken. Selbst der Stein der Erinnerungen kehrte wieder zu dem Staub zurück, aus dem er einst geschaffen war. Ordentlich angelegte Wege suchte man vergebens, sogar einen Trampelpfad gab es nicht mehr, wenn man erst die Lodovicos hinter sich gelassen hatte. Anfangs war es eine Qual, nicht auf die sterblichen Überreste eines Menschen zu treten, später eine Unmöglichkeit.
Dennoch: Hinein musste man, wenn man mehr als nur Kadaver suchte. Die Ordnung der Anlage erschien klar zu sein. Außen befanden sich die neueste, frischesten Gräber. In den letzten zwei Jahren waren wieder vermehrt Einzelgräber aufgetreten, markiert durch einfache Holzkreuze mit einem Geburts- und einem Todesjahr. Hinter diesen fand sich das unschöne Beiwerk der Plünderungen. Massengräber. Die Erde war hier immer noch mit Blumen übersäht und irgendwie...saftiger als auf den anderen Gräbern. Hübsche, große Steinkreuze schmückten die Grabstätten, stets mit Beileidsworten geschmückt und einem Hinweis auf die "glorreich gefallenen", die "heimtückisch gemeuchelten" oder "beim großen Brand von 934 umgekommenen" Kinder der Stadt.
Dort, wo das Zentrum des Friedhofs zu liegen schien, schoben sich einige größere Hügel aus der Erde. Grotesk und knorrig ragten einige uralte Olivenbäume aus dem fauligen Erdreich hervor, verhöhnten den Tod um sie herum mit ihrem stolzen Leben, nährten sich an dem Fleisch der Verstorbenen. Benedetto konnte erkennen, dass einige dieser Hügel nicht wirklich Hügel waren und dass einige Bäume mehr auf den Mausoleen wuchsen, als auf fester Erde.. Es waren kleine Anzeichen, die ihn darauf aufmerksam machten. Hier ragte die Hand einer Statue aus dem Boden, dort eine Schieferschindel und dann und wann der Giebel eines Mausoleums.
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Post by Benedetto on Sept 16, 2014 17:27:26 GMT
Eine Zeitreise durch den Tod. Der fette Mönch schritt langsam und ehrfürchtig zwischen den Gräberreihen daher, begutachtete die Grabsteine. An den Massengräbern hielt er inne und begutachtete das Werk des Schnitters. Die Plünderungen mussten einen hohen Blutzoll gefordert haben. Benedetto lächelte vergeistigt, dann machte er sich auf den Weg zum Inneren des Friedhofs. Seine Stimmung besserte sich, als er das gigantische Gräberfeld sah. Vielleicht ruhten hier ungeahnte Geheimnisse.
Die römischen Namen hinter sich lassend und voller Ehrfurcht vor dem Alter dieses Ortes begutachtete der Mönch die überwachsenen Mausoleen. Das Mondlicht fiel auf den halb zerbrochenen Kopf einer Statue. Es war ein idyllischer, wenngleich düsterer Anblick. Benedetto beugte sich nieder und küsste die Skulptur auf die marmorne Stirn. Dann setzte er sich neben sie und kramte in seiner Tasche.
Fein säuberlich legte er kleine Messer und Pergament beiseite, bis er gefunden hatte, was er suchte - eine wächserne Schreibtafel, mit Holz verkleidet. Darauf hielt er nun einen Plan der Nekropole fest, nicht allzu detaillert, aber dennoch die Struktur des Ortes erfassend. Hier und da zeichnete er eine Landmarke ein, einen alten Baum, ein markantes Grab. Schließlich schnalzte er mit der Zunge und packte die Steintafel erneut ein.
Dann erhob er sich und schaute, ob es vielleicht möglich war, in eines der alten Mausoleen einzudringen. Der Forscherdrang hatte ihn gepackt.
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Post by Il Narratore on Sept 17, 2014 14:10:55 GMT
Fünf der ältesten Mausoleen standen einst in der Mitte eines größeren Feldes, einander zugeneigt und eine Art Kreis um eine einfache Stele, deren verwitterte Eingrabungen schon lange keine Auskunft mehr über den Zweck dieser Konstellation gaben. Sicher war nur, dass diese tempelförmigen Grabmäler einst bessere Zeiten gesehen hatten. Keines war mehr vollständig. Eines war vollkommen zusammen gebrochen, bei zweien hatten die tragenden Säulen nachgegeben und so den Eingang mit einigen Tonnen Stein und Marmor verschüttet. Bei einem weiteren hatte die Natur es für angemessen befunden, direkt aus dem Sarkophag - der durch die fehlende Tür hindurch von außen sichtbar war - einen Baum wachsen zu lassen, der das Dach des Mausoleums gesprengt und sein Inneres vollständig mit Wurzeln und Geäst durchzogen hatte.
Nur eines stand noch und war der Masse des Kappadozianers zugänglich. Der Putz war abgeplatzt, die meisten Inschriften und Fresken von Wind und Wetter so abgetragen, dass die Steine praktisch spiegelglatt wirkten. Aber der Giebel und das tragende Gerüst war weitgehend intakt, wenn auch verrutscht durch den Wegbruch von zwei tragenden Säulen auf der rechten Seite. "DIV...OPS...MAGNA.MAT..." stand dort zu lesen. Die Tür darunter war vor Jahrzehnten zu Staub zerfallen, der Stein der Wände von Jahrhunderten verschoben. Schief und einladend stand das Grabmal offen.
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Post by Benedetto on Sept 17, 2014 18:02:26 GMT
Benedetto betrachtete die uralte Inschrift und stützte sich dabei schwer auf seinen Stab. Magna Mater, die große Mutter. Wohl ein heidnischer Text aus der dunklen Vorzeit, lange bevor die ewige Stadt den Erlöser anerkannte. Wem dieses Grab wohl einst gehört haben mochte? Während er in die dunkle Gruft hineinstieg, lächelte er. War nicht der Baum, das Leben, das durch den Sarkophag spross, ein deutlicher Beweis dafür, dass Tod und Leben immer zusammenhingen? Wie närrisch, nur eine Seite der Münze zu betrachten.
Sehr, sehr vorsichtig tastete er sich vorwärts, seine übernatürlichen Sinne anstrengend.
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Wahrnehmung und Aufmerksamkeit: E8llOPVm5d10 5d10
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Post by Il Narratore on Sept 17, 2014 23:18:39 GMT
Zentimeterdicker Steinstaub und Humus wirbelte auf, als mit schweren Schritten der Kappadozianer sich in das enge Grabmal wuchtete. Viel Platz gab es wirklich nicht in dem etwa drei Schritt breiten und fünf Schritt langen Mausoleeum, dessen Mitte von dem knorrigen, verdrehten Baum eingenommen wurde. Das beachtliche Bäuchlein Benedettos schleifte mehr als einmal unangenehm an Stein vorbei, wurde unsanft von einer scharfen Kante oder spitzen Ecke gepiekt und die fingerlangen Steinsplitter auf dem Boden drückten sich nach einer Weile unangenehm durch die Ledersohlen der Schuhe. Den Kopf musste er glücklicherweise nicht einziehen, aber er fühlte sich doch stark...beengt.
Das Innere sah genauso wenig einladend wie das Äußere des Grabmals aus. Der Geruch von Verwesung lag in der Luft, von lange vor sich hin kompostierenden Pflanzen und Gewürm, das sich durchs weiche Erdfleisch schob. Von Leichen nicht mehr. Ein Blick in den von Wurzeln zersplitterten Sarg offenbarte leere. Wer auch immer hier vor Unzeiten seine letzte Ruhe gefunden hatte, er war endgültig zu Staub zurückgekehrt. Ebenso waren sämtliche der sichtbaren kleinen Fächer in den Seitenwänden, wo hinter kleinen, angelaufenen Bronzetäfelchen die gesammelten Gebeine der Familie gelegen haben mochten, praktisch leer. Hier und da fanden sich Knochensplitter und Haarbüscheln, aber nichts größeres.
Bei den meisten waren die Bronzetafeln abgerissen oder zerschlagen worden. In handliche, kleine Teile gehackt um das wertvolle Metall mitzunehmen und einzuschmelzen. Die Lebenden brauchten den Schutz wohl dringender als die Toten. Zwar musste dabei einiges an sterblichen Überresten achtlos auf dem Boden verteilt und zerschlagen worden sein - aber wen kümmerte schon das Seelenheil von Heiden? Noch dazu welche, die seit Jahrhunderten tot und vergessen waren, deren Namen vom Stein selbst ausgekratzt worden war.
Es war beruhigend, wie gleichmäßig und still sich innerhalb des Grabes der menschliche mit dem weltlichen Staub vermengte und überall gleichmäßig da lag, abgesehen von den breiten und tiefen Fußstapfen des dicken Mönches. Und den anderen, die es da noch gab. Sie waren zu klein für Benedettos Füße und zu flach für sein Gewicht. Nicht wie die eines Kindes, sondern mehr wie die eines schmalen, schlanken Mannes, der vorsichtig zu gehen geübt war. Die seltsamen Spuren - die einzigen in dem jahrhunderte alten Staub - führten geradewegs in die Ecke, die am weitesten vom Eingang entfernt war und deren Seitenwand unter dem Druck der Jahrhunderte etwas abgesackt war. Nur der verflixte Baum versperrte den Weg.
Benedetto würde hindurchpassen. Wenn er sich etwas anstrengte und quetschte und Schaden an sich, seiner Kleinung und dem hartnäckigen Baum in Kauf nahm, könnte er in die hinterste Ecke des Grabes schauen.
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Post by Benedetto on Sept 18, 2014 7:36:35 GMT
Der Mönch starrte die Fußspuren an und schnalzte mit der Zunge. Dann bleckte er die Zähne. Es war ein beunruhigender Anblick, als in der Masse weichen Fleischs plötzlich scharfe, weiße Spitzen auftauchten. Langsam schritt er zu dem Baum in der Ecke. Wer mochte hier hausen? Ein bedauernswertes Opfer der Plünderungen, das hier eine Zuflucht gefunden hatte? Vielleicht ein Räuber, der ein unauffälliges und ruhiges Versteck suchte? Oder doch etwas Älteres, etwas Düsteres... etwas Gefährliches?
Er tappte mit den Fingern auf die Wand, während er mit sich selbst rang. Ein bedauernder Laut, als sein Blick über die Verwüstung glitt. Solche Mühe, eine ewige Ruhestätte zu schaffen. Und so kurz nur, relativ gesehen, bis der Zahn der Zeit alles zerstört hatte. Wenn die mythischen Ahnen seiner Art noch lebten, dann mochten sie diesen Verfall selbst gesehen haben. Wie unglaublich verstörend dies sein musste... sein eigenes Grab zu betreten, nach Jahrhunderten, und es so vorzufinden.
Er fühlte das Verlangen, sich einfach in den Sarg zu legen und die Augen zu schließen. Nicht aus Todeswunsch, sondern aus dem Wunsch nach etwas kleinem, greifbaren, der kontrollierbaren Enge. Dimensionen, die sein Geist zu erfassen vermochte.
Stattdessen legte er seine Kutte ab. Sie würde nur hinderlich sein und der Tod - und was damit einherging - hatte ihm jegliche Scheu vor der Nacktheit genommen. Außerdem war es ein gutes Kleidungsstück und er wollte sie nicht ruinieren. Mit dem fetten, nackten Bauch vor sich und nur mit einer Art Bruche und seinen Schuhen bekleidet, trat er auf den Baum zu.
Seufzend begann er, sich hindurchzuschieben.
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Post by Il Narratore on Sept 18, 2014 13:30:19 GMT
So gut wie unmöglich, in der Dunkelheit noch hinter dem Mondlicht etwas zu erkennen. Selbst Katzen und Räuber der Nacht würden es schwer haben. Nicht, dass es hier noch viel zu räubern gäbe zwischen den morschen, trockenen Ästen des Baumes und dem kalten Stein. Holz knackte und brach, als Benedetto sich weiterschob, und der Boden selbst schien unter der Gewalt zu ächzen und zu stöhnen. Doch wie sehr das Grab sich auch gegen den dicken Eindringlich wehrte: Nichts hinterließ Spuren auf dem wandelnden Leichnam, abgesehen von einigen Rissen in der Unterkleidung und einigen Blutstropfen im Staub. Keine Wunde blieb, kein Splitter konnte sich tief genug in sein Fleisch eingraben, um wirklichen Schaden zu verursachen.
Der Raum, der von Sarkophag und Wänden gebildet wurde, war nicht sehr groß. Gerade groß genug für Benedetto um sich um sich selbst zu drehen, genau genommen, und nicht sehr einladend. Eine Reihe verhungerter Spinnen, die Überreste eines Rattennestes und...die verräterische Abwesenheit von Staub. Die Bronzetafeln waren hier wie überall abgerissen, ihr Inhalt vor Jahren von den Kreaturen und Ungeheuern der Leichenfelder verschlungen und zerstreut. In keinem der dadurch freiliegenden Kästchen konnte Benedetto etwas ausmachen - weder mit seinen Augen noch durch zielloses Tasten in der Finsternis. Es war aber auch zu naiv, ein Geheimnis in den Wänden anzunehmen, wo sich diese Ecke doch an nichts anderes anschloss. Die Wände waren vielleicht einen Fuß dick und dahinter gab es nichts als Luft.
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Post by Benedetto on Sept 18, 2014 17:51:29 GMT
Der dicke Mönch ging in die Hocke und begutachtete den Boden sehr genau, tastete darauf herum. Der fehlende Staub entlockte ihm ein Schnalzen und während er die Finger aneinanderrieb, blickte er nachdenklich in die Dunkelheit. Die Wände mochten nicht dick genug sein, aber das bedeutete ja nicht, dass er hier keinen Weg nach unten gab. Ins Erdreich, wo die Toten ruhten.
Sollte er dort nichts finden, so würde er zunächst wieder sich zwischen Baum und Wand hindurchquetschen. Er war sich bewusst, dass er Spuren hinterließ, aber das war kaum zu vermeiden. Schließlich nahm er seine Kutte auf, aber bevor er sie wieder anlegte, zog er einen dünnen Faden aus dem Stoff. Diesen klemmte er zwischen Baum und Wand - hier hinter ein Ästchen, dort legte er einen kleinen Stein in ein Loch und den Faden darunter. Dann bekleidete er sich und verließ das Grab, um rechtzeitig zur Vigil zurückzusein.
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In der nächsten Nacht stand der dicke Mönch erneut vor dem Grab, diesmal mit einer Laterne in der Hand. Als erstes wurde geprüft, ob der Faden noch an Ort und Stelle war - dann würde er sich erneut durch den Spalt quetschen.
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Post by Il Narratore on Sept 18, 2014 20:34:11 GMT
In der nächsten Nacht war noch alles ganz genau so, wie Benedetto es zurückgelassen hatte. Das Leben war noch immer von dem Ort geflohen, Stein und Staub lagen ruhig da im Mondschein und der improvisierte Stolperdraht klemmte noch. Gefunden hatte er nichts dort unten in der Dunkelheit und dem Unrat. Nichts außer ächzendem Stein. Auch im Schein der primitiven Laterne war es nicht anders: Der Boden war übersäht mit Unrat - Mist, altes Haar und Tierkadaver -, der sich an die Außenmauer gedrängt fand, aber ansonsten leer. Die gestern von Benedetto unfreiwillig abgebrochenen Zweige lagen noch genau so herum, wie er sie zurückgelassen hatte. Was nun das Licht der Funzel sichtbar machte - das schwache Licht, denn die Bestie in jedem Kinde Kains fürchtete sich vor dem Feuer - war allerdings gestern noch nicht dagewesen: Der Boden des Mausoleums bestand aus Platten von vielleicht einem Schritt Länge und Breite und eine befand sich genau in jener schwer zugänglichen Ecke, die von Staub scheinbar völlig befreit schien...
Zaghaftes Klopfen offenbarte einen Hohlraum.
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Post by Benedetto on Sept 18, 2014 20:51:04 GMT
Benedetto rieb sich erfreut die Hände. Dann schaute er sich nach einer Möglichkeit um, diesen Hohlraum zu öffnen. Gab es vielleicht einen Ast, der als Hebel dienen konnte? Oder einen Spalt, in den man greifen konnte, um die Platte zu heben? Es war unwahrscheinlich, dass sich dahinter ein komplexer Mechanismus verbarg - schließlich war dies nur eine alte Gruft - doch zur Sicherheit schaute er auch an den Wänden nach einem Schalter oder einer Kette.
Im Licht der Funzel ging der dicke Mönch ans Werk...
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Post by Il Narratore on Sept 19, 2014 17:55:03 GMT
Benedetto sah nichts weiter, als eine Steinplatte. Oh, es gab Fugen zwischen den einzelnen Platten, gerade genug, um einen Finger hereinzuschieben, der dünner als die seinen war. Mit einem Bündel der Äste mochte es sicherlich angehen, den Stein einige Milimeter anzuheben, soweit, dass er die dicken Fingerchen dazwischen klemmen und unter Schmerz und Anstrengung mit der Arbeit beginnen konnte. Eine gute halbe Stunde Schufterei - eine Zeit des Schiebens, verzweifelten ziehens und drückens von einem einzelnen Stein der das Gewicht einer Tonne haben musste und sich nur mit der Sturheit und der unheiligen Kraft eines Untoten bezwingen ließ. Am Ende aber hatte der Kappadozianer die Platte aufgerichtet und darunter tatsächlich eine Art Tunnel freigelegt. Mehr ein Erdloch, das schräg in die Erde führte. Unendlich tief und schwarz schickte der Schlund den Eindruck der Bodenlosigkeit nach oben. Die Erde drumherum war von schwarzbrauner Farbe, selbst im Licht der Laterne, und zerrieb sich leicht zwischen den Fingern. Sie hinterließ einen öligen Film, der sich auch an Kleidern nicht abwischen ließ.
Der dicke Mönch würde niemals hier hindurch passen. Eines von zwei Dingen würde geschehen: Er würde stecken bleiben oder den gesamten Tunnel zum Einsturz bringen und dann stecken bleiben, ohne Blut und Kraft, sich wieder hinauszugraben. Nicht, wenn ihn nicht dasjenige Ding fand, das hier diesen Tunnel gegraben hatte jedenfalls...aber wollte er das?
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Post by Benedetto on Sept 19, 2014 18:26:03 GMT
Benedetto schnupperte. Ah, der vertraute Geruch des Grabes. Dann blickte er in das Loch hinein und fluchte sehr unchristlich. War das die Belohnung für seine Mühen? Wäre er dünner gewesen, so wäre er vielleicht sogar hinabgestiegen. Wer wusste schon, ob das tunnelgrabende Wesen nicht vielleicht neue Erkenntnisse zu bieten hatte... doch dank seiner Leibesfülle war ihm diese Möglichkeit versperrt. Er rieb sich die Stirn und dachte nach, erschöpft von der Anstrengung.
Es schien logisch, dass die hier hausende Kreatur sehr stark war - denn sonst wäre es ihr wohl kaum möglich, den Stein zu heben. Ein Mensch? Möglich, aber eher unwahrscheinlich. Denn die Spuren waren kleiner als seine eigenen gewesen. Und das wiederum passte nicht zu der Vorstellung einer starken Person. Benedetto hatte nur eine vage Vorstellung, was noch so alles in der Dunkelheit lauern mochte. Ein Artgenosse mochte dazu gehören. War er in die Domäne eines anderen Kainskindes eingedrungen?
Der Kappadozianer setzte sich auf den Steinboden und verschränkte die Hände, stützte sein Gesicht darauf. Wenn dem so war, so würde dieser andere seine Spuren bemerken. Es war recht unvermeidlich. Er hatte sich keine Mühe gegeben, sie zu vermeiden - und im Staub waren seine Fußstapfen deutlich sichtbar. Schließlich seufzte er und nahm ein kleines Stück Pergament aus seiner Tasche. Im Schein der Funzel schrieb er einige Worte darauf, dann klappte er den Stein wieder herunter und klemmte das Pergament im Spalt fest.
Auf Latein stand dort: "Ein unbeabsichtigtes Eindringen mag zu einem Treffen führen. Ich warte um Mitternacht an der Stele. B."
Dann verließ er die Gruft wieder, nicht ohne den Faden erneut aufzuhängen. Draußen warf er einen Blick zurück. Es war gut möglich, dass ein Mitglied seiner Art, wenn dieser Ort seine Zuflucht war, auch Latein lesen konnte. Und wenn nicht - nun ja. Es gab Möglichkeiten der Übersetzung, die einem vernunftbegabten Wesen offenstanden. Mangelte es dem Gräber hingegen an Vernunft, so konnte Benedetto gut auf das Treffen verzichten.
Die Kutte enger um sich ziehend, eilte der Mönch ins Kloster zurück. Die nächsten Nächte über würde er stets um Mitternacht über das Gräberfeld schleichen, um zu sehen ob jemand wartete. Wenn nicht, so würde er selbst an der Stele weilen, etwa eine halbe Stunde lang. Seine Priesterbesuche konnte er vorher erledigen - und danach blieb noch genug Zeit, um sich zu nähren.
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Post by Il Narratore on Sept 19, 2014 19:03:25 GMT
Wochen musste der arme Mönch in der einsamen Nähe der Gräber zubringen, Wochen in denen ihm nichts Gesellschaft leistete als der Tod, der selbst schon gestorben war. Kein Vogel traute sich hierher, keine Ratte war dem abstoßenden Geschöpf Kamerad. Alles, alles, was ein Leben hatte floh vor ihm - aus gutem Grund. Ihm blieb nicht viel in dieser Einsamkeit, außer der eigene Geist und die Gedanken.
Es war der 23. September des Jahres 937, zwei Wochen vor dem Erntedankfest, als Benedetto sich endlich genug auf die Lauer gelegt hatte. Es begann mit einem Gefühl in seinem Nacken, als krieche etwas daran hoch. Als lege sich ein Finger in seinen Nacken, dann zwei und schließlich eine ganze Hand, die auf seinen Schultern ruhte. Ein Rascheln kam hinzu, was seltsam war, denn die einzige Baumart der Gegend - der Ölbaum - war gemeinhin eine immergrüne Pflanze und ihre Blätter raschelten auch nicht. Zu lang und schmal und saftig. Trotzdem raschelte es dort hinter jenem Grabstein ganz sicher und hier unter dieser Platte. Verschob sich dort nicht gerade die Erde, rauschte nicht der Boden selbst aneinander? Kurz darauf spuckte die Finsternis Benedetto eine Katze vor die Füße. Sie saß dort einfach plötzlich, auf dem Sockel der Stele und starrte den dicken Benedetto aus ihren grünen Augen. War sie immer schon da gewesen? Jedenfalls sah sie aus wie ein Teil der Dunkelheit selbst, als wäre ihr Fell der Schatten, ihre Zähne und Klauen die Sterne, und nicht wie ein Lebewesen.
Zischen erklang, von irgendwo und nirgendwo, hallte wieder zwischen den stummen Grabmalen und der weiten Leere: "Cos'é questo? Cosa vuole? É polposo, è succoso! E sanguina? E una buona preda." [Was ist es? Was will es? Es ist fleischig, es ist saftig! Blutet es? Es ist gute Beute.] Benedetto konnte fühlen, wie sein Bauch gedrückt wurde, wie knochenfeine Finger sich in seine Seiten bohrten und in den Speck griffen. Wie die Hexe aus den Märchen das Gewicht der Beute abschätzend.
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Post by Benedetto on Sept 19, 2014 19:34:59 GMT
Benedetto machte das beste aus seiner Wartezeit. Er studierte die Pflanzen, die zwischen den Gräbern wuchsen. Er begutachtete den Marmor. Er beschritt die Nekropole von anderen Wegen aus, wenn ihn die Zeit dafür blieb. Auch wenn er in manchen Dingen... unbeherrscht sein mochte, so war er doch geduldig, wenn es um Mysterien ging. In dieser Hinsicht teilte er voll und ganz die Leidenschaft seiner Clansbrüder. Außerdem konnte er hier, auf dem Friedhof, allen Verlockungen aus dem Weg gehen. Hier war es ruhig
Deswegen spürte er die Präsenz sofort. Seine Nackenhaare stellten sich hoch und er zuckte zusammen, als er die geisterhaften Finger fühlte. Er blickte von hier nach da, sah aber nichts, bis sein Blick auf die Katze fiel. Seine Augen weiteten sich beim Anblick des Geschöpfs, denn obgleich auf dem Friedhof Ratten lebten und andere, wilde Katzen anlockten, so war deutlich, dass hier etwas... anderes vor ihm saß.
Und dann begann die Dunkelheit zu sprechen. Benedetto konnte nicht vermeiden, dass seine Fleischmassen zu beben begannen und seine Stimme höher war als sonst, ein Quieken, während er hastig die Worte ausstieß: "Besser... besser als Beute! Ich bin hier, um meinen Respekt zu erweisen." Nein, dies war garantiert kein Mensch. Jeder Mensch, der hier Zuflucht suchte, war so gut wie tot. "Aber das kann ich nur, wenn ich euch sehe." Er biss sich auf die Lippen. "B...bitte, zeigt euch!"
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